Über Versuche zur Entwicklung einer architektonischen Formensprache (1982)

Welche Methoden können aus der Ratlosigkeit angesichts des Wirtschaftsfunktionalismus und der ausdruckslosen Platte führen? Ziel ist eine nichtssagende Architektur mit Ausdruck anzureichern ohne ins Dekorative zu wechseln.

Olaf Weber
Über Versuche zur Entwicklung einer architektonischen Formensprache im zeitgenössischen Bauen

Es gibt zwei ästhetische Grundforderungen an die architektonische Form: Schönheit und Ausdruck. In manchen Zeiten, man nimmt an, es sind die unbeweglich erscheinenden und relativ saturierten Epochen, überwiegt das Harmoniebedürfnis, in anderen aber, in Übergangsepochen, steigt das Verlangen, auch die bauliche Umwelt in die geistigen Auseinandersetzungen der Zeit einzubeziehen. Für die Gestaltung wird dann das Ziel anstatt im Schönen im Charakteristischen gesucht, und der Ausdrucksgehalt einer Form, ihre Expressivität und Wirkung werden zur intendierten Gestaltungsgröße. Natürlich besteht zwischen Ausdruck und Schönheit keine Unvereinbarkeit, als dass es nicht möglich wäre, sie im Bauwerk zu vereinen. Ihre Beziehung ist von der Art, dass eine sogar Mittel werden kann, um das andere zu erreichen. Die Unterscheidung in das was wir hier vereinfachend Schönheit und Ausdruck genannt haben, ist aber notwendig als Richtungskampf zweier gegenläufiger Tendenzen, die sich in der gesamten Baugeschichte in immer wieder neuer Ausprägung wiederfinden. Gegenwärtig erholt die Seite des Ausdrucks aus unterschiedlichsten Gründen einen deutlichen Auftrieb. Damit verschärft sich das allgemeine Problem des Ideell-Ästhetischen in der Architektur, das in Gestalt von Proportions- und Kompositionsdiskussionen ein kümmerliches und oft genug formalistisches Dasein fristete, so dass auch die Diskussion um das Schöne nur auf einem elementaren Niveau geführt werden konnte.

Von der Erkenntnis ausgehend, dass es unmöglich ist, etwas zu schaffen, ohne dabei auch etwas auszudrücken, so dass sich der Mensch als gesellschaftliches Wesen in seinen Produkten, „in einer von ihm geschaffenen Welt (selbst) anschaut“(1), stellt sich die Frage nach dem spezifischen Ausdrucksgehalt der Architektur sowohl quantitativ als auch qualitativ, sowohl im Verhältnis zu anderen Produkten (wie Gebrauchsgegenständen, Kunstobjekten) als auch im Verhältnis zu den anderen Eigenschaften der Architektur (vor allem den materiell-praktischen). Ernst zu nehmende Argumente gibt es sowohl für, als auch gegen die Entwicklung des Ausdrucksmomentes in der Architektur. Betrachten wir einige der am meisten zu hörenden, zunächst die skeptischen:

– Die Beschäftigung mit Formfragen lenke den Architekten von seiner sozialen Verantwortung ab. Das ist ein Argument, das angesichts des weltweiten Mangels an Wohnraum und der Kreation mancher Schöngeister, die Architektur immer noch mit Kunst verwechseln, von der gesellschaftlichen Verantwortung dieser Kritiker zeugt. Zwischen sozialen und ästhetischen Anforderungen darf es aber keine Konkurrenz und auch keine Rangfolge bezüglich ihrer zeitlichen Verwirklichung geben; die soll es hingegen im Verhältnis von Grundbedürfnissen (die materieller und ideeller Natur sind) und weiterreichenden Ansprüchen geben (die ebenso praktisch oder ästhetisch sein können). Im Gegensatz zum Entweder-oder-Denken verwirklicht sich die soziale Funktion der Architektur nicht gegen, sondern mit der Form.

– Um den Ausdruck brauchten wir uns nicht sonderlich zu kümmern, da zweckmäßige Raumorganisation und moderne Bautechnik ihn quasi automatisch hervorbrächten. Eine solche Argumentation missachtet die zunehmende Ambivalenz und Gestaltlosigkeit moderner Materialien und technologischer Einheiten und verkennt die große Bedeutung der konzeptuellen Gestaltungskraft in einer auf der Grundlage der modernen Produktion entwickelten Ästhetik.

– Die Architektur dürfe nur Hintergrund und Bühne der Lebenstätigkeit der Menschen sein. Über die gegenständliche Umwelt solle keine Beeinflussung erfolgen, damit sich der Mensch der Dingwelt gegenüber befreien kann – als ein Moment seiner allgemeinen Emanzipation. In diese Richtung tendieren diejenigen, die keineswegs das Ausdrucksproblem geringschätzen, aber angesichts mancher rhetorischer Gewalttätigkeiten alter und neuer Fassaden eine verständliche Zurückhaltung in der Expressivität der Architektur verlangen.

– Manchmal wird die Möglichkeit geleugnet, in der zeitgenössischen Architektur überhaupt irgendwelche Erfahrungen über Formen zu vermitteln. Das hieße aber entweder, der architektonischen Form jeden Inhalt abzusprechen oder aber, die Form-Inhalt-Beziehung außerhalb des kommunikativen Zusammenhanges von Architekt und Nutzer zu stellen.

– Mit der Aufwertung des künstlerischen Momentes in der Architektur würde die herrschende Ideologie, also die Ideologie der Herrschenden, gefestigt. Diese Erkenntnis hindert viele progressive Architekten in westlichen Ländern daran, in ihren Entwürfen gewollte und potente expressive Elemente zu installieren.

Neben diesen durchaus ernsthaften kritischen Argumenten zum architektonischen Ausdruck, die natürlich nur in Bezug auf die konkrete gesellschaftliche Situation, für die sie gelten, bewertet werden können, gibt es ebenso ernsthafte bejahende:

– Die Menschen brauchen die Sinnlichkeit ihrer gegenständlichen Umwelt, die den Strukturen und Inhalten ihres Bewusstseins adäquat ist; ihr Bedürfnis nach ästhetischer Wertung und nach Identifikation mit dieser Umwelt erfüllt sich nur in vielfältigen Kontakten mit bedeutungsvollen Formen.

– Der Zugang zur Architektur erschließt sich wesentlich ¸über die Form. Architektur wird für die Nutzer verfügbar, indem sie sich sinnlich offenbart. Die praktische Aneignung von Architektur setzt in dialektischem Sinne deren ideelle Aneignung voraus; Architektur beeinflusst durch Information und Impuls das Verhalten der Menschen im Raum.

– Architektur ist in der Lage, über ihre komplexe praktisch-geistige Aneignung gesellschaftliche Werte, Ideale und Beziehungen zu vermitteln. Ihre Form ist ein Medium kultureller Kommunikation.

Alle Argumente zusammengenommen ergeben ein klares Votum für den Ausdruck in der heutigen Architektur, aber natürlich nicht für den Ausdruck um „jeden Preis“.

Drei Hauptkriterien sollen dafür gelten:

– Ausdruck ist keine von der praktischen Funktionalität der Architektur freie ästhetische Potenz, er kann nur als semantische Vermittlung der Form zu einem relevanten Fakt verstanden werden. Die Relevanz dieser Vermittlung muss aus der gesellschaftlichen Funktion der Architektur im allgemeinen und der konkreten Bauaufgaben im besonderen abgeleitet werden.

– Der Ausdrucksträger und damit die ganze Ästhetik der Architektur muss im Entwicklungszusammenhang mit der technologischen Basis der Bauproduktion stehen. Keinesfalls darf sich die Formensprache der Architektur gegen den ñ allerdings immer wieder an den sozialistischen Zielstellungen zu messenden ñ technischen Fortschritt gerichtet sein.

– Die Aufwertung des Ausdrucksmomentes in der Architektur bedeutet keine Restauration des alten Konzepts von der Architektur als „Kunst“. Mit der Umwertung des Architekten zum Künstler ist diesem Prozess nicht beizukommen. Das architektonische Gestalten muss eine neue Qualität von Wissenschaftlichkeit, Kollektivität, von sozialer und kultureller Dimension und von Subjektivität erhalten, die es ermöglicht, dass sich die Menschen in der Architektur die räumlichen Bedingungen ihrer Existenz auf umfassende Weise aneignet.

Bekanntes und Unbekanntes

Form ist noch nicht Ausdruck. Erst in einem Akt der Aneignung, in dem die Form entsprechend einer kulturellen Norm in einer historisch-konkreten gesellschaftlichen und gegenständlich-räumlichen Situation gedeutet wird, erhält sie für die Nutzer die Bedeutung und Aussage, eben Ausdruck.

Diese drei Begriffe werden hier vereinfachend synonym gebraucht. Die Interpretationsnorm stiftet durch ihre Kollektivität Kommunikation, so dass der Architekt über die Form eine Aussage vermitteln kann. Die Aussage ist Ausgangspunkt der Gestaltung und Interpretationsergebnis. Sie verhält sich zur Form ähnlich wie der Zweck zum Mittel.

Deshalb muss das Wesen der architektonischen Aussage nicht von den formalen Eigenschaften her bestimmt werden, sondern innerhalb des Verhältnisses dieser Eigenschaften zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, zur Praxis der Architekturaneignung. Der Inhalt einer Form wandelt sich historisch und situationsabhängig. Eine architektonische Form „an sich“ ist überhaupt nicht zu bewerten, sie kann nur im konkreten sozial-kulturellen Kontext und in bezug auf die gesellschaftliche Zielstellung der Gestaltung beurteilt werden. Aus diesem Grunde ist es notwendig, bei der Beurteilung der neuen weltweiten Entwicklungsphase der Architekturästhetik den instrumentellen Charakter der Gestaltungsmittel von deren inhaltlich vorgeprägten und darin unerschütterlichen Assoziationswerten zu unterscheiden. Manche dieser Mittel sind gesellschaftspolitisch wertneutral, andere nicht. Meist handelt es sich um Gestaltungsprinzipien, deren konkrete Anwendung, Zusammenstellung und Ausformung erst den Inhalt festlegt. Auf diesem Gebiet sind umfangreiche Analysen nötig. Im folgenden werden einige dieser Gestaltungsprinzipien zur Erzeugung von architektonischem Ausdruck in einem ersten Ansatz untersucht; zuvor müssen wir aber auf eine Gesetzmäßigkeit aufmerksam machen, die die Anwendung dieser Mittel erklären hilft.

Sie gilt unter der Voraussetzung, dass die Architekturform der gegenständliche Träger einer Idee ist, das heißt, dass in ihr nicht nur menschliche Wesenskraft vergegenständlicht ist, sondern auch zum sinnlichen Ausdruck kommt, und zwar nicht nur mechanisch widergespiegelt, sondern ästhetisch akzentuiert und in eine Formensprache umgesetzt. Unter dieser Voraussetzung ist das zu beachten, was für jede sprachliche Kommunikation gilt: Man kann nur Neues durch Bekanntes mitteilen. Verständigung kann nur erfolgen, wenn im Empfänger die neue Information mit einer schon vorhandenen Erfahrung zusammentrifft. Wie in der Sprache Wörter, Wendungen und grammatische Strukturen verwendet werden, die hinreichend bekannt sind, um den Inhalt neuer Sätze zum Ausdruck zu bringen, so muss der Architekt die Formerfahrungen der Nutzer kennen und nutzen, um die Assoziationswerte der Formen zu einer Aussage zusammenzufügen. Solches Vorgehen hindert nicht daran, neue Formen zu entwickeln, doch muss dort, wo die Form den Erfahrungshintergrund verlässt, mit der neuen Form zugleich eine sich zum Inhalt wandelnde neue Erfahrung vermittelt werden – durch die Einheit von praktischer und geistiger Aneignung.

Das schon Bekannte ist aus zwei Gründen wichtig. Einerseits knüpfen sich daran Assoziationen, die den Erlebnisgehalt der Form erhöhen. Zum anderen bildet das Bekannte in einer Nachricht die Füllmenge, die notwendig ist, um das wirklich Neue zu transportieren. Wird der Anteil des Bekannten an einer Formkonfiguration zu groß, so versteinern die Assoziationen zu Klischees und der Informationsgehalt füllt unter einen Sollwert, bei dem das Interesse für die Form aufhört und Langeweile sich ausbreitet. Umgekehrt wird der Rezipient überfordert, wenn das Assoziative des Bekannten fehlt und zu viele neue Formenelemente das Verständnis erschweren.

Soweit die allgemeine Regel. (2) Sie lässt sich auf die verschiedenste Weise verwirklichen, allerdings sind nicht alle Ergebnisse, auf die sie sich anwenden lässt, aus der Absicht hervorgegangen, eine verständliche und erlebnisreiche Umwelt zu schaffen. Gerade dort, wo ästhetische Entscheidungen schon am deutlichsten semiotisch (nach den Gesetzen der allgemeinen Sprachwissenschaft) begründet werden, in der Architekturtheorie der entwickelten kapitalistischen Länder, herrscht der Profit und nicht die Persönlichkeit als allgemeinstes „Orientierungsmaß für die Gestaltung der Lebensbedingungen“ (3). Die ästhetischen Lösungen sind dort oft nur soziale Scheinlösungen.

Übernahme historischer Gestaltungsmittel

Die unmittelbarste Beziehung zum Bekannten ist die zum Alten, das Alte ist das zeitlich, historisch vorgeordnete Gewohnte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Versuche zur Rückgewinnung von architektonischem Ausdruck zunächst stark historisch orientieren. Die Verwendung von Formen, die an den Gegenständen des gleichen Typs schon ausprobiert und massenhaft verwirklicht waren, lässt Gewohnheiten der Nutzer vermuten und spekuliert auf einen stabilen Erfahrungscode, der die Formen mit festen Bedeutungen, Empfindungen, Assoziationen usw. koppelt. Mit den Formen, so hofft man, werden auch ihre Wirkungen manipuliert. Diese Hoffnung ist prinzipiell nicht unbegründet, wenn diese alten Formen -ähnlich Vokabeln – wirklich allgemeiner Gedächtnisbesitz sind. Es gibt eine objektive Notwendigkeit, den Beharrungswillen der Form, der aus ihrer kommunikativen Funktion erwächst und in einem Bedürfnis der Nutzer verankert ist, zu respektieren. Sogar die Neuerer wie Hannes Meyer richteten sich nach den „atavistischen Neigungen der künftigen Bewohner“(4), wenn sie bestimmte ideelle Wirkungen erzielen wollten. Ein Architekt, der sich zur Architekturform verantwortungsbewusst verhält, vermeidet formalistische Neuerungen, die nur Unverständlichkeit produzieren, aber er leistet einen Beitrag zur Entwicklung der Architektursprache, wo diese inhaltlich begründet ist. Das ist nicht die parasitäre Haltung derjenigen zur Tradition, die sich auf den Formerfindungen anderer ausruhen oder daraus ihre eigene Demagogie entwickeln, wie es die faschistische Architektur demonstriert hat.

Innerhalb der Architekturkonzeptionen, die ein kopierendes Verhältnis zur Baugeschichte einnehmen, müssen wir zwischen Historismus und Eklektizismus unterscheiden. „Der Historismus sucht durch die Benutzung historischer Bauformen Assoziationen zu ideal konzipierten gesellschaftlichen Zuständen zu erreichen … Der Eklektizismus betrachtet die Gesamtheit der historischen Bauformen als vorgegebenes Gestaltungsinstrumentarium, zu dem er sich unter dem Aspekt der zu lösenden Aufgabe selektiv und synthetisierend verhält“ (5). Der Historismus orientiert sich stärker an den Inhalten, der Eklektizismus an den Formen historischer Aussagen. Neuere wesentliche Architekturströmungen sind teilweise historisierend, teilweise eklektizistisch, d. h. sie sind mehr oder weniger rückwärts gewandt. Viele Architekten nutzen nostalgische Sehnsüchte, die sie aus der privaten Wohnstube in den öffentlichen Außenraum tragen, und konservative Stimmungen, um daraus profitable Kostüme für schlechte Häuser zu schneidern. Aber es ist auch ein neues Moment aufgetaucht, das in der Architektur der Vergangenheit nur eine geringe Rolle spielte, das ist die Verfremdung. Bei diesem Verfahren werden die bekannten Formen nicht einfach den konkreten Bedingungen angepasst, sondern auch in einem bewussten Widerspruch zu ihnen gebracht, so dass die zum Kitsch tendierende Einfühlung ständig durch rationale Momente gestört wird. Es sei an Brecht erinnert, der die Verfremdung zu einem wichtigen Erkenntnismittel seiner Kunst erhoben hatte (6). Für die Architektur muss dieses Mittel erst ausprobiert werden, es steht im Gegensatz zur nostalgischen Adaption und zur parasitären Demagogie und muss deshalb von uns ganz anders bewertet werden als diese.

Das überlieferte kann auf verschiedenen Ebenen der Zweck-Mittelhierarchie zur Form gekommen sein. Tritt es auf einer oberen Ebene auf (z. B. als Formprinzip der Symmetrie), so sind die Ähnlichkeiten zu historischen Vorbildern nur strukturell und abstrakt, auf unterer Ebene aber werden sie sinnlich konkret. Dort muss besonders verantwortungsbewusst mit ihnen umgegangen werden, weil sie oft (als historische Zitate) beziehungslos bleiben und – nur oberflächlich kontrastierend – zum Kitsch tendieren. So ist es beispielsweise fraglich, ob wie in Greifswald versucht wurde, der Einbau von alten Türen im industriellen Massenwohnungsbau tatsächlich geeignet ist, Nachdenken über die Geschichtlichkeit der Stadt bei Einwohnern und Besuchern zu provozieren, oder ob dadurch nur oberflächlich wirkliche Bedürfnisse nach Vielfalt kompensiert werden.

Architektur kann eine Menge Altes enthalten und trotzdem modern sein. Dem zeitgenössischen Ausdruck unserer Architektur sind wir auch der Historizität unserer Städte und deren unverfälschter Aneignung wegen verpflichtet. Anmerkung: Es braucht nicht ausgeführt zu werden, dass denkmalpflegerische Aufgaben anders als mit Argumenten der Wiedergewinnung von Ausdrucksfähigkeit der Architektur begründet werden müssen.

Andere spezifische Gegenstandssprachen übernehmen

Ein weiteres Verfahren zur Aufladung der architektonischen Form mit Bedeutungen ist die Übernahme von Formmerkmalen, die sich in der Nachbarschaft der Architektur ñ vor allem in der technischen Produktionsgestaltung, der bildenden Kunst und Gebrauchsgraphik ñ herausgebildet haben. Sie haben dort einen spezifischen Ausdruck erhalten, den sie auch dann behalten, wenn sie in Beton und Stahl umgesetzt worden sind. Das hoffen jedenfalls die Architekten, die diese Mittel verwenden.

Auch diese Erwartung ist nicht unberechtigt, wie die Erfahrung zeigt. Bei der Übernahme von Formqualitäten des industriellen Design – Häuser sehen dann aus wie Radioapparate, Musikboxen oder Kaffeemaschinen – ist meist beabsichtigt, das fortschrittliche technologische Niveau der Massengüterproduktion ästhetisch nachzuahmen und eine originelle Gestalt zu übernehmen, die architektonisch nicht zu begründen, die aber schon bekannt und akzeptiert ist. Der Widerspruch zwischen diesem angenommenen Image und dem tatsächlichen technologischen Standard der Bauproduktion kann nicht durch Rücknahme des ästhetischen Codes, sondern muss durch Entwicklung des Industrialisierungsgrades (Baudesign) aufgelöst werden. Die vorgreifende (damit auch immer die partiell unrichtige) Übernahme dieser Formmerkmale hat ihre theoretische Begründung in der Einheit der materiellen Kultur und im Ensemblecharakter der Künste. Die Entwicklung der Kunst strahlt – vermittelt ¸ber die Wahrnehmungs- und Interpretationsgewohnheiten der Menschen – auf die architektonische Formensprache aus. Die Aufhebung des alten tektonischen Prinzips und die Übernahme des Formkonzepts des Schwerelosen, in dem die Lastabteilung im normalen Falle als gelöst und als darstellungswürdig gilt, verleitet dazu, die Formensprache von kleinen Dingen in den Maßstab von Gebäuden umzusetzen.

Es entsteht ein völlig neues Erscheinungsbild für „Gebäude“, wie es im Vergleich des Opernhauses und des Neuen Gewandhauses auf dem Leipziger Karl-Marx-Platz augenscheinlich ist. Ein solcher Prozess ist vor allem durch die Entwicklung der Bautechnik determiniert, wird aber durch die ästhetische Konzeption von der Überleitung produktionsgestalterischer Formierungsweisen in architektonische modifiziert und beschleunigt. Die Beurteilung der Ergebnisse eines solchen Verfahrens – auch der Translation gebrauchsgraphischer und bildkünstlerischer Formen und Formprinzipien in architektonische – muss den verbliebenen Assoziationswert dieser Formen und ihre Entsprechung zu den funktionellen und konstruktiven Bedingungen der Bauaufgabe berücksichtigen.

Elemente der Alltagsästhetik aufgreifen

In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist der Anteil von Reklameträgern aller Art an der visuellen Umwelt so groß geworden, dass diese nicht nur das Gebaute zu großen Teilen verdecken, sondern dass die Architektur selbst diese Sprache übernehmen muss, um gegen deren vulgäre und rhetorische Reize bestehen zu können.

Die Architekten haben es aufgegeben, gegen die Interessen der allmächtigen Reklameindustrie anzuknüpfen und anerkennen sie als Autorität in Sachen Alltagsästhetik. Sie akzeptieren damit die vom Markt erzogenen Sehgewohnheiten und versuchen die Assoziationswerte der kommerziellen Reklamesprache für den Ausdruck der Architektur zu nutzen (7). Dieses Verfahren mag systemimmanent effektiv sein, aus der Not wird aber auch dann keine Tugend, wenn das ästhetisch nicht Gewollte nun doch noch eine Funktion erhält. Diese Funktion wird sich inhaltlich von ihrer Herkunft nicht lösen können.

Wir brauchen nicht auszuführen, dass aus dieser Richtung keine Anregung für die Entwicklung der Formensprache der Architektur im Sozialismus zu erwarten ist. Doch sollten wir aufmerksam unsere eigene „Alltagsästhetik“ studieren. Architektur hat nicht jedem Gestaltungstrend nachzulaufen, doch ist sie auch nicht mehr die „Mutter der Künste“, die in ihrer Sprache den für alle Medien gültigen Stil formuliert. Die Erfindungen der Gebrauchsgraphik, der Ausstellungsgestaltung, der Möbelindustrie, des Fernsehens usw., also aller Bereiche, die Massenkultur prägen, sind für die Formensprache der Architektur mitbestimmende Fakten.

Regionale und kontextuelle Besonderheiten ausnutzen

In den regionalen Besonderheiten der Landschaft und ihrer historisch gewordenen baulichen Ausprägung ist der „Geist des Ortes“ aufgehoben. Er kann ein Ausdrucksmoment der Architektur sein, wenn es z. B. gelingt, regionale Inhalte auch mit den Mitteln des industriellen Bauens auszudrücken. Von Rostock bis Suhl gibt es zahlreiche dahingehende Bestrebungen, allerdings besteht die Gefahr, dass aus Mangel an wirklichen funktionellen und bautechnischen Anlässen für diese Besonderheiten Dekorationen angebracht werden, die nur einen historisch verblichenen Zusammenhang assoziieren. Die formale Individualität sollte zugleich Geschichtlichkeit und gesellschaftliche Praxis reflektieren.

Ähnlich der regionalen können auch die engeren kontextuellen Eigenarten den baulichen Formen Ausdruck spenden. Wo in vorhandene Strukturen hinein Neues gebaut wird, dort strahlt der Ausdruck des Umgebenden auf das Neue aus. Voraussetzung dafür ist aber nicht, wie als Meinung weit verbreitet, dass sich das Neue dem Alten angleicht, sondern dass das neue Gebäude dem Vorhandenen gegenüber dialogfähig ist; ein Dialog aber kann durchaus im Kontrast geführt werden, nicht aber in der Isolierung.

Manieristische Umformung

Der Manierismus – ursprünglich wurde damit die Übergangsperiode von der Spätrenaissance zum Barock bezeichnet – ist als stilgeschichtlicher Begriff immer mehrdeutiger geworden, je mehr das Interesse von den formalen Ergebnissen zu den methodischen Prinzipien überwechselte. Wenn der Begriff an dieser Stelle überhaupt verwendet wird, so geschieht das nicht in der Absicht, Stilelemente der Spätrenaissance für das zeitgenössische Bauen aufzufrischen, sondern aus einem methodischen Interesse heraus und weil die modernen Anwender dieses Gestaltungsprinzips sich selbst „Manieristen“ nennen. Der Manierismus als Methode hat zwei Gesichter.

Einerseits steckt dahinter die Negation der gesellschaftlichen Praxis als Darstellungsinhalt und die Überbewertung der Individualität des Künstlers, seiner besonderen Manier, die allein ästhetisch wertvoll sei.

Dabei ist Individualität aber nur scheinbar verwirklicht, denn – wie die Geschichte zeigt – erstarrt solcherart manieristische Freiheit sehr schnell zu Systemen formaler Kanons und Vorschriften, die die natürliche Bindung des Ästhetischen an die Entwicklung der gesellschaftlichen Praxis ersetzen müssen. Es entsteht der Eindruck des Gewollten und Gespreizten, ein Klischee, das immer nur vorgibt, innovativ zu sein. Andererseits ist die Hinwendung zum Subjektiven kreativ und produktiv dort, wo sie hilft, ein erstarrtes ästhetisches Schema aufzubrechen. In den Fällen, in denen dieses Schema auf einer ausgereiften, klassischen Harmonie beruht, kann es nur durch einen gewissen – am alten Muster gemessenen – Verlust an formaler Schönheit weiterentwickelt werden. Dann werden Proportionen überdehnt, Ordnungen verändert, mehrdeutige Raumsituationen erzeugt usw.. Manierismus ist ein typischer Versuch, aus formaler Schönheit wieder Ausdruck zu entwickeln. Er zielt aber nicht auf einen Bruch mit den gültigen Normen, auf keinen neuen Stil, sondern auf unbekannte und expressive Variationen des längst Bekannten.

Der Manierismus ist ein Spätstil, d. h., er setzt einen entwickelten, stabilisierten Formenkanon voraus, er lebt von einer klassisch-strengen Norm, die ständig um einige Nuancen gebrochen wird. Insofern ist er ein parasitärer Code. Die Norm (der Basiscode) verschleißt sich, wenn sie immerzu angegriffen wird, so dass der Manierismus mit ihr auch die Grundlage seiner eigenen Existenz zerstört, bis sich eine neue Norm gefestigt hat.

Die Basis des „neuen Manierismus“ ist die Formensprache des Funktionalismus. Der allgemeinen Kritik an ihrer Ausmagerung versucht er nicht durch Bilder, Symbole, historische Zitate, Ornamentik usw. zu begegnen, sondern er bleibt bei ihrer strengen, abstrakten und puristischen Ordnung, die er aber artifiziell umdeutet und verfremdet ñ eben manieristisch modifiziert.

Der neue Prager Hauptbahnhof ist ein Beispiel für diese Ausdrucksvariante (8).

Für ihre Anwendung ist die theoretisch zu beantwortende Frage interessant, ob es sich dabei tatsächlich um einen parasitären Code auf klassischem Schema (also um Manierismus) oder um die Weiterentwicklung der modernen Formensprache handelt.

Und natürlich kommt es darauf an, ob es sich um gewollt übertreibenden und peinlichen subjektivistischen Formalismus oder um den semantischen Bezug zu einem objektiven und darstellungswürdigen Fakt handelt – etwa der besonderen psychischen Situation des Reisenden auf einem Bahnhof.

Nutzung von konstruktiven und räumlichen Erfahrungen

Die Formensprache des modernen Bauens ist wesentlich von dem Bemühen geprägt, den technischen und technologischen Fortschritt des Bauwesens zum Ausdruck zu bringen. Der Stolz auf die Ergebnisse der industriellen Revolution kam vor allem in neuen tektonischen Prinzipien zum Ausdruck, die auf eine neue Qualität in der Beherrschung der Statik schließen ließen.

Zuerst wurden die neuen konstruktiven Mittel unmittelbar und expressiv zur Schau gestellt (Konstruktivismus), später wurde die Lastabtragung mehr und mehr versteckt.
Der Grund dafür war aber nicht ein Erlahmen des Interesses an konstruktiven Fragen, sondern das Gegenteil: Die Unsichtbarkeit der konstruktiven Glieder macht die Statik rätselhaft und anziehend. (Vorhangwände, um die Ecke laufende Fensterbänder usw.) Wenngleich wir heute den Ausdruck der Architektur nicht mehr vordergründig in ihrer konstruktiven Beschaffenheit sehen, so bleibt die technisch-technologische Basis als Moment der Produktivkraftentwicklung doch weiter darstellenswert, wie auch die neuere Architekturentwicklung – über Brutalismus und neuem Technizismus – zeigt (vor allem dort, wo die Konstruktion dekorativ ist ñ vgl. das Freizeit- und Erholungszentrum in Berlin).

Neben den konstruktiv-technischen Erfahrungen können die Raumerfahrungen der Nutzer für die Bedeutungshaftigkeit der Architektur genutzt werden. Räume verweisen durch ihre Größe, Lage, Form und Zuordnung auf nutzertechnologische Zusammenhänge. Das Kenntlichmachen der Raumstruktur ist ein sehr direktes Verfahren, um durch entsprechende indexikalische Zeichen Momente der gesellschaftlichen Praxis auszudrücken.

Typisieren ñ Archetypen

Die Ergebnisse der industriellen Produktion verfestigen, indem sie das serielle Prinzip auch für die Aneignung durchsetzen, die Beziehung der Form zu einer bestimmten Erfahrung. Wer eine Formkonfiguration an verschiedenen Orten in dem gleichen praktischen Zusammenhang erfährt, für den wird diese Koinzidenz zum Zeichenzusammenhang, d. h., die Form wird zum Symbol für einen bestimmten Nutzungstyp, Kaufhallen, Schulen und Kindergärten kann jedermann in einem Neubauwohngebiet auf den ersten Blick identifizieren. Durch diese technologische Typisierung erhält die Umwelt einen klar definierten Ausdruck, aber er ist nur eindimensional. Tatsächlich sollte die Wohngebietskaufhalle nicht nur dem Typ von Kaufhallen dieser Größenordnung angehören, sondern auch den Typ der Gebäude dieser Landschaft, der Stadt, des Wohngebietes, dem technologischen Typ, dem ästhetischen Zeittyp usw. Das heißt, jedes Bauwerk sollte aus einer vieldimensionalen Typisierung seine Individualität schöpfen. Die Einmaligkeit der Form sollte nicht erfunden, sondern aus vielen Ausdruckskomponenten synthetisiert werden.

Durch Studien der Typologien sind die selbst ernannten Rationalisten (Aldo Rossi und andere) auf sogenannte Archetypen gestoßen, die Grundformen des Wohnens und anderer Funktionen in universellen (Ur-)Gestalten zusammenfassen wollen.

Ihre Methode ist nicht die der typologischen Synthese, sondern die der asketischen Reduktion, die gebauten Ergebnisse sind deshalb meist schematisch, monoton und unsinnlich.

Erfinden von ikonographischen Zeichen

Bilder stellen durch ihre Ähnlichkeit zu dem Abgebildeten auch eine assoziative Verbindung zwischen beiden her. Ein Gebäude, das solche Ähnlichkeiten als Momente einer gegenständlichen Plastik enthält, kann auch die Inhalte des abgebildeten Gegenstandes partiell übernehmen. Ein Flughafenempfangsgebäude, das wie ein zum Flugzeug ansetzender Vogel aussieht, stellt eine sinnerfüllte gedankliche Verbindung her (vgl. Idlewild Airport von E. Saarinen).

Ikonographische Zeichen wollen nicht nur eine unverwechselbare Gestalt haben, sondern auch einen bildhaften Verweis enthalten (vgl. auch Universitätshochhaus Leipzig). Die Probleme, die sich bei der Anwendung dieser Ausdrucksmethode ergeben, resultieren aus dem semantischen Zeichenbezug, der meist simpel, abgekürzt und künstlich ist und aus den Widersprüchen, die sich zwischen der exaltierten Form und den funktionellen und technischen Notwendigkeiten ergeben.
In enger Verwandtschaft zur ikonographischen Methode steht der sogenannte Expressionismus in der Architektur. Das Wirkungsprinzip einer expressionistischen Form besteht nicht darin, über die Gestalterkennung Eigenschaften eines anderen Gegenstandes zu assoziieren, sondern darin, die elementare Form zur unmittelbaren psychischen Wirkung zu bringen. Eine gedrückte oder eine aufstrebende Form führt auch ohne andere gegenständliche Bezüge zu jeweils unterschiedlichen Bewertungen, die natürlich weitere Assoziationen erlauben (vgl. Einstein-Turm von Mendelsohn). Das ikonographische Verfahren ist vermittelter und intellektueller, das expressionistische ist unmittelbarer und emotionaler. Während das expressionistische Moment in Gestalt elementarer Formwirkungen immanenter Bestandteil jedes architektonischen Ausdrucks ist und dort nur Steigerungen und Verwandlungen erfährt, ist das Ikonische in der Architektur immer absichtsvolles Gestaltungsergebnis, denn im Wesen der architektonischen Form ist diese sinnlich konkrete Widerspiegelung nicht enthalten.

Umhüllen

Das konstruktive Gefüge kann selbst Träger des architektonischen Ausdrucks sein wie bei den ikonographischen Zeichen. Im Prozess der weiteren Industrialisierung des Bauwesens, besonders durch die Spezifikation der Baustoffe, werden immer mehr Trag-, Hüll-, Isolier- und Ausdrucksfunktionen den eigens dafür geschaffenen Konstruktionselementen übertragen. Damit geht der materiell determinierte Zusammenhang von Formensprache und materiell praktischer Funktionserfüllung der Architektur verloren. Er muss durch das Wissen um die Formierungsgesetze der Architektur und durch die ethische Verantwortung der Architekten ersetzt werden, die dafür Sorge zu tragen haben, dass die informellen Hüllen der Architektur nicht Pseudowelten produzieren, an denen echte Bedürfnisse nur scheinbar befriedigt werden. Das äußerliche Hinzufügen verdient noch keine moralische Disqualifikation, es erhöht die Komplexität der Kriterien für die Bewertung der Gestaltungsergebnisse.

Formerfahrungen der Nutzer aufgreifen

Wie die Gestaltung in der Aneignung der Architekturform ihre Erfüllung findet, so der architektonische Ausdruck in der geistigen und praktischen Reaktion der Nutzer. Die Nutzer und ihr Verhalten bilden also den Zielraum aller Formgebung. Aus dieser Erkenntnis und angesichts der Unsicherheit über den „richtigen“ Ausdruck entwickelten sich in kapitalistischen Ländern Tendenzen, die Verantwortung für die architektonische Formensprache auf die Nutzer zu delegieren. Sie stützen sich auf die Annahme, dass Formen, die von den „Architekturlaien“ in der von ihnen selbst produzierten gegenständlichen Umgebung benutzt werden, von ihnen auch verstanden werden. Deshalb sollten sie auch das Formeninventar der Architekten bilden. Nach diesem Grundsatz ist die Einbeziehung der Nutzer in das Architekturgeschehen nur scheindemokratischer Voluntarismus. Aber es gibt auch andere Tendenzen, die darauf hinzielen, im Dialog zwischen Architekten und Nutzer die Formensprache der Architektur zu entwickeln. Für Architekten ist die „Laienarchitektur“ ein wichtiges empirisches Material, für die Nutzer sind architektonische Innovationen Impulse für ihr kulturelles Bewusstsein. Es ist notwendig, in das ästhetische Beziehungsgeflecht von Neubaublock, Wochenendhaus und Loggiabemalung ständig kollektive Erfahrungen über die Entwicklung der architektonischen Formensprache einzubeziehen und somit die Architekturform und den Umgang mit ihr zu qualifizieren.

Schlussbemerkung

Die Möglichkeiten zur Entwicklung von architektonischem Ausdruck sind vielfältig.

Sie sollten zum methodischen Repertoire der Architekten gehören, die sie nach dem Charakter der Bauaufgabe, den Realisierungsmöglichkeiten und den Bedingungen des Auftrags und des Entwurfs anwenden.

Die methodische und konzeptionelle Varianz kann dazu beitragen, auch die bauliche Landschaft vielfältiger zu machen. Wir suchen keine modische und keine subjektivistische, sondern eine regionale, praktische, stoffliche, technologische … – eben eine den gesellschaftlichen Bedürfnissen adäquate Differenzierung.

Die Fortentwicklung der Architektur ist nur in der Vervollkommnung und Anreicherung der Gestaltungsmittel des modernen Bauens und der funktionalen Schaffensmethode möglich. Ein Zurück in den vorindustriellen Zustand und seine antiquierte Ästhetik, wie es manche Apologeten des sogenannten Postmodernismus wollen, ist weder sozial, noch ökonomisch, technisch oder ästhetisch vertretbar (9). Der Funktionalismus der zwanziger Jahre war kein Fehltritt, sondern der hoffnungsvolle Ansatz einer ästhetisch erst noch auszufüllenden Antwort auf die Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution, die sich anschickt, auch das Bauwesen grundlegend zu verändern. Eine neu zu entwickelnde Formensprache der Architektur wird weder formpluralistisch noch stildogmatisch sein; sie muss ein sehr großes Spektrum einander verträglicher Gestaltungsmittel umfassen, die ein System bilden. Die Suche nach dieser Formensprache wird um so dringlicher, je differenziertere Bauaufgaben zu lösen sind. Dabei hilft weder die Auffassung weiter, dass die gesellschaftliche Praxis direkt und mechanisch architektonischen Ausdruck schaffe, sobald sie in Raumstrukturen umgesetzt wird, noch diejenige Haltung, die alles richtig findet, was verschönert und was expressiv ist. Der Ausdruck der Architektur ist auf komplizierte Weise mit dem Zweck, der sozialen Funktion, der gesellschaftlichen Praxis, mit dem ganzen Komplex materiell-praktischer Faktoren verbunden. Der Architekt hat das Recht, die unmittelbaren Beziehungen in vermittelte zu verwandeln; er genießt prinzipiell die Freiheit dieser semantischen Vermittlung, die er allerdings nur unter Respektierung der Gesetzmäßigkeiten und Regeln der ideellen Aneignung verwirklichen kann. Das heißt aber nicht, dass sich der Ausdruck von diesen Faktoren lösen, diese sogar negieren oder verschleiern darf. Im Gegenteil: Das wichtigste Beurteilungskriterium für die Gestaltung liegt darin, wie effektiv die Form die gesellschaftliche Praxis als Ganzes und die relevanten Fakten im einzelnen ausdrückt, weil diese Informationen die Nutzer befähigen, sich in ihrer Umwelt emanzipatorisch einzurichten. Der Begriff „effektiv“ verweist hier auch auf Offenheit des Mittelrepertoires, das Symbole, Überhöhungen, Verfremdungen, Andeutungen, Montagen usw. enthalten kann. Alle diese Mittel können auch zu Subjektivismus, Oberflächlichkeit und Effekthascherei führen, je nachdem, welche Zielstellungen ihrer Anwendung und welche Norm ihrer Deutung zugrunde lag.

Zwischen Verschleiern und Informieren verläuft die Trennungslinie der Werte, d. h. zwischen dem Formalisieren der Architektur einerseits und dem Funktionalisieren der Form andererseits. Aus der Funktion der Form und ihrer konkreten Wirkung, nicht aber aus dem bloßen Fakt des Einsatzes bestimmter Gestaltungsmittel müssen wir die Beurteilung gestalterischer Lösungen ableiten. Die Kriterien auf dieser Ebene anzusetzen macht die Beurteilung eines Entwurfs gegenüber der Bewertung nach formalen Eigenschaften nicht einfacher, sondern komplizierter, aber sie wird genauer. Architekturkritik muss diesen Bewertungsraum ausfüllen.

Anmerkungen

(1) Marx, K.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. MEW Ergänzungsband, Schriften bis 1844, erster Teil, Berlin 1968, S. 574.
(2) Über den theoretischen Hintergrund dieser Regel siehe: Weber, O., Zimmermann G.: Probleme der architektonischen Gestaltung unter semiotischem-physiologischem Aspekt. Hrsg. Bauakademie der DDR, Institut für Städtebau und Architektur, Berlin 1980.
(3) Kühne, L.: Räumliche Organisation des menschlichen Lebensprozesses und Gegenstandsfunktionen, in: Form und Zweck, 13 (1981) 4, S. 15.
(4) Meyer, H.: Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, Projekte. Dresden 1980, S. 48.
(5) Kühne, L.: Gottfried Semper. Wegbereiter moderner Architektur in: Deutsche Architektur (1967) 10, Anmerkung 9, 690.
(6) Brecht charakterisiert dieses Mittel so:
„Die neuen Verfremdungen sollen den gesellschaftlich beeinflussbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt. Das lange nicht Geänderte nämlich scheint unabänderbar … Wer misstraut dem, was ihm vertraut ist? Damit all dies viel Gegebene ihm als ebensoviel Zweifelhaftes erscheinen könnte, müsste er jenen fremden Blick entwickeln, mit dem der große Galilei einen ins Pendeln gekommenen Kronleuchter betrachtete“. (Brecht, B.: Kleines Organon f¸r das Theater, in: Sinn und Form, 1949, S. 26)
(7) Vgl. Venturi, R., Scott Brown, D. und Izenour, St.: Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt. Braunschweig 1979.
(8) Die besondere tschechische Tradition des Manierismus beschreibt Sevčik, J.: Modernismus, Postmodernismus, Manyrismus. in: Architektura CSR (1981) 3, S. 135-139.
(9) Die Maßlosigkeit der Kritik, mit der die „Postmodernen„ den „Internationalen Stil„ zu diskreditieren versuchen, kennzeichnet trotz vieler intelligenter Anregungen den modischen Charakter dieser Theorie. vgl. Jencks, Ch.: Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1978.

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