Für und gegen Imitation (1982)

Zwischen puritanischem Funktionalismus und der eklektischen Postmoderne bietet sich der Begriff der Imitation an, um ethische und ästhetische Grundfragen der Gestaltung zu diskutieren.

Olaf Weber
Für und gegen Imitation

Am Ende seines Beitrages „Über Imitation“ stellte uns Heinz Hirdina eine Frage und gab uns seine Antwort: „Was also haben Imitationen mit der industriellen Formgestaltung zu tun? Nichts, denn Imitationen beruhen auf dem Handwerk, das so nur als Schein weiterlebt.“ (1) Solcherart kompromißlose Verurteilung der Imitation scheint in Kreisen, die die Kultur des funktionalen Designs verdienstvoll hochhalten, vorzuherrschen, und sie scheint angesichts des versuchten Pomps und der Imitationsflut mehr als berechtigt zu sein.

Die Problemlage
Wer verspürt nicht das Unbehagen, das von den depravierten Oberflächen vieler und gerade der alltäglichsten Gegenstände unserer Umwelt ausgeht? Wer liebt schon die folienkaschierte Indifferenz des Materials, das nicht altern kann, weil jeder Kratzer die Täuschung offenbart? Die Schneeglöckchen aus Plast – sie blühen merkwürdigerweise meist gerade auf den Tischen der Mitropawagen – erheitern uns wenigstens, besonders dann, wenn sie in Vasen mit Frischhaltewasser stecken. Aber solcherart Komik kann natürlich nur in seltenen Fällen unsere berechtigte Abneigung gegen diese und ähnliche Surrogate kompensieren. Und andererseits: Wer erfreut sich nicht an einem Stahlbinder, einem Stuhl, einem Tongefäß, bei denen das Material in seinen physikalischen Eigenschaften so zur Form gebracht worden ist, dass in ihr die Natur des Materials weiterlebt? Wer empfindet nicht positiv die zur ästhetischen Wirkung gekommene gegenseitige Bedingtheit von Stoff und Form? Die Fragen sind suggestiv, wir brauchen sie nicht zu beantworten, denn hier beinhaltet „Imitation“ lediglich die negative Bewertung eines auf Täuschung abzielenden Materialeinsatzes. Der Negativwert der Imitation als abzuqualifizierendes Unechtes wird gestützt durch solche Synonyme, wie Schminke, Talmi, Tand, Kosmetik, Maskerade, Mimikry, Illusion, Surrogat, Draperie usw… Das Vortäuschen falscher Material-Tatsachen stößt natürlich auf Mißtrauen, weckt Verdacht und macht – wo die Täuschung auf den zweiten Blick erkannt wurde – auch gegenüber anderen Versprechen des Produktes vorsichtig. Und der Imitationsschwindel, der für den Konsumenten gedacht ist, führt zum Selbstbetrug des Produzenten, da er sich durch bequeme Scheinlösungen um den Anreiz zur Qualitätssteigerung bringt.

Es besteht kein Zweifel, dass die Auseinandersetzung im Problemfeld der Imitation offensiv geführt werden muss. Doch worin liegt das Übel? Liegt es darin, dass eine Oberfläche auf ein fremdes Material verweist? Die Holzimitation in kratzfestem Melafol auf der Arbeitsplatte einer Anbauküche ist harmlos gegenüber dem Kitsch des „echten“ Holzes in Form von geflammten, farblos lackierten, ungesäumten und borkigen Brettern, wie sie Verkaufsbuden, Selbstbedienungsgaststätten und
Andenkenläden zieren. Das „Echte“ ist zur Schau gestellt, aber als simples Klischee – und fällt durch. Das Übel sehen wir nicht im imitierenden Materialeinsatz „an sich“. Wir setzen die Kriterien dort an, wo diese Imitation hinführt – oder wo sie nicht hinführt –, in den ästhetischen Wertverfall, speziell in den Kitsch. Damit will gesagt sein, dass nicht jede Imitation ins ästhetische Abseits führt, dass Imitation nicht nur Unwert darstellt, sondern auch den Charakter eines Mittels besitzt, das für diesen oder jenen Zweck eingesetzt werden kann. Die globale Ächtung der Imitation ist unfruchtbar. Dagegen ist es wichtig, die Entstehungs- und Wirkungsweise des Imitationscodes zu untersuchen und spezifische Kriterien für ihre Anwendung aufzustellen. Imitation wurde in der Vergangenheit fast ausschliesslich als ethisches Problem diskutiert: Die Frage nach der „Wahrheit der Form“ stand dabei im Mittelpunkt, vor allem die Frage danach, ob diese Wahrheit erfordert, dass die Form, in der sie auftritt, von der unveränderten stofflichen und technischen Notwendigkeit diktiert werden sollte. Fritz Schumacher schrieb dazu in der Mitte der zwanziger Jahre: „Diese Schlußfolgerung ist vielfach gezogen worden, und man sah in ihr eine Zeitlang gegenüber den mannigfachen Verirrungen, in die eine rein dekorativ aufgefasste Architekturbehandlung geführt hatte, eine Art von Erlösung. Solche Auffassung ist in ihrer reinigenden Einseitigkeit durchaus nützlich gewesen, aber das letzte Wort ist damit in diesen Fragen noch nicht gesprochen.“ (2)

Das letzte Wort ist auch heute, fünfzig Jahre später, noch nicht gesprochen – im Gegenteil. Eine Ursache dafür besteht in der Einengung auf das Problem der „Wahrheit“ – oft sogar nur im Sinne der Wahrheitsrelation der Aussagenlogik, nicht aber im Sinne der „künstlerischen Wahrheit“. Imitation ist in dieser Denkweise nur „falsch“ und, weil bewußt betrieben, „Falschheit“, also Lüge, während das Einschmuggeln von Gestaltungsintentionen zwischen die materiellen Faktoren und naturgegebenen Determinanten einerseits und die bauliche Form andererseits als harmloseres Schwindeln aufgefasst wird. Natürlich gibt es zwischen „normalem“ Gestalten und Imitieren eine Grenze, die aber aus diesem Gedankenkreis heraus nicht zu bestimmen ist. Nicht nur die Prägung der Form durch das Material, sondern auch die ästhetische Wertung dieser Prägung muss zur Charakterisierung dessen herangezogen werden, was Imitation ist, und darüber hinaus der konkrete gesellschaftliche Inhalt der Gestaltung. Wenn wir dafür sind, daß Architektur- und Produktgestaltung der Wahrheit und der sozialen Verantwortung, der Erkenntnis, aber nicht der Lüge verpflichtet sind, so heisst das keineswegs, dass jede einzelne Form und jeder einzelne Gestaltungsakt für sich diese Verpflichtung erfüllen kann. Und es ist fraglich, ob man derartige Forderungen überhaupt an einen einzelnen Gegenstand stellen kann, gleich, ob es ein Gebrauchsgegenstand oder ein Gebäude ist. Geht es nicht vielmehr darum, welchen Beitrag die Gegenstände leisten zur Herausbildung einer fortschrittlichen Kultur, einer Kultur, die zugleich widerspiegelt und antizipiert? Die Rolle der Imitation in einer solchen Kultur ist erst noch auszuloten. Wegen der Komplexität des Gegenstandes muss die Bestimmung der Imitation gnoseologische, ethische, psychologische, axiologische usw. und kommunikative Aspekte enthalten. Letztere sind im besonderen Gegenstand der folgenden Erörterungen.

Der „Kunst“-Charakter der Imitation
Ein kurzer Blick auf die Geschichte genügt, um sich die gewaltige Bedeutung imitierender Gestaltung für die künstlerische Ausdruckskraft der Architektur zu vergegenwärtigen. Wie unlängst zu lesen war (3), wird bei der gegenwärtig stattfindenden Rekonstruktion des Schinkel-Schauspielhauses in Berlin und bei dessen Umbau in eine Konzerthalle 4000 m2 Stuckmarmor, also Marmor imitierender Gips, allein für die Wände verarbeitet. Die Verwendung von Gips statt Marmor folgt dem historischen Vorbild. Man muss annehmen, dass es angesichts des baugeschichtlich und architektonisch unbestrittenen Wertes des weltberühmten Bauwerkes wohl wesentlichere Kriterien für die Qualität der Gestaltung geben muss als die Verwendung oder Nichtverwendung imitierenden Materials.

Aber gerade von Schinkel stammt der Ausspruch, dass „in der Architektur alles wahr sein (muss), jedes Maskieren, Verstecken der Konstruktion ein Fehler (ist)“. (4)

Haben wir es hier mit einem Widerspruch zwischen dem Theoretiker Schinkel und dem Praktiker Schinkel zu tun? Oder mit verschiedenen Entwicklungsphasen der ästhetischen Anschauungen Schinkels? Liegt diesem Widerspruch vielleicht noch eine tiefere Dialektik zugrunde? Versteckt der Gips etwas – um anderes vorzutäuschen und gerade daraus die Gestaltungskraft zu gewinnen für die Verdeutlichung eines anderen, für wesentlicher gehaltenen Zusammenhanges?

Es könnte also Bedingungen geben, unter denen eine Täuschung ihren Negativwert verliert und zu einem Faktor der positiven ästhetischen Wertung wird. Diese Vermutung erhärtet sich, wenn man sich überhaupt mit ästhetischen Täuschungen beschäftigt, mit optischen Täuschungen beispielsweise. Sie gehören zu den bewundernswertesten Kunstmitteln der bedeutendsten Maler und Architekten, die sich unverhohlen gegenseitig – wegen der Raffinesse in der Anwendung solcher Mittel – komplimentieren. So bewunderte Hannes Meyer an Michelangelos Gestaltung des Kapitols in Rom gerade „das Illusionäre – beide Seitenpaläste stehen schräg in Beziehung zur Hauptachse und betonen auf diese Weise die Bedeutung des Senatspalastes im Hintergrund. Die Zugangstreppe ist oben breiter als unten. Wenn der Besucher hinaufgeht, hat er die optische Illusion einer größeren Länge, und beim Betreten des Platzes wiederholt sich dieser Eindruck: Die Schrägheit der Seitenfassaden vertieft noch die wirkliche Tiefe des Platzes, und der Autor dieser genialen Komposition scheint sich über die gewohnten Regeln der Perspektive lustig zu machen.“ (5) Es entspricht Meyers Funktionalismus, dass er das Kunstmittel der optischen Illusion in Hinblick auf die wirkliche, praktische Aneignung des Platzes verwendet wissen möchte. Davon unabhängig kommt in dieser Äußerung etwas zum Ausdruck, das bei vielen Architekten in ähnlicher Weise anklingt – gerade dem Illusionären in der Architektur wird Kunstcharakter zugesprochen. Die Umwandlung des praktisch Richtigen in eine sinnliche Entsprechung, die – wie es Gropius formulierte – eine „Steigerung des Handwerkers zum Künstler“ beinhaltet, verwandelt die praktische Gestalt in ein affektbeladenes Bild, das keineswegs nur von Hinzufügungen, sondern ebenso von Abwandlungen der Grundform seine expressive Kraft gewinnt. Durch Täuschung den Zugang zu einem äußerlichen Teil der Wirklichkeit versperren und zugleich Zugang zu einem wichtigeren Teil verschaffen und aus diesem Widerspruch ,noch ästhetisches Kapital schlagen, nur in diesem paradoxen Zustand läßt sich die Imitation vorstellen, wenn man sich ihr positiv nähern will. Lassen wir noch einen anderen Modernen, Richard Neutra, zu Worte kommen: „Man kann gar nicht genug betonen, dass Illusion eines der gebräuchlichsten Mittel des Baumeisters ist und dass dieser gut daran tun würde, wenn er sich mit der ernsten Forschung auf diesem Gebiet vertraut machte.“ (6) Natürlich ist Illusion nicht dasselbe wie Imitation, um aber die Klammer der Täuschung zwischen der Plasteblume und Michelangelos Kapitol wieder aufzulösen, das heißt, um die Spezifik der Materiatimitation gegenüber den allgemeineren Phänomenen der Sinnestäuschungen zu bestimmen, müssen wir zunächst die Funktionsweise der Imitation im Prozess der gesellschaftlichen Rezeption beachten.

Imitation und Kommunikation
Das Phänomen der Imitation ist vordergründig eine Angelegenheit des Materials, das auf bestimmten kommunikativen Beziehungen beruht. Nehmen wir „Holzfasertapete“. Bekanntlich ist das eine Tapete, die wie andere Verkleidungsmaterialien Holz vortäuscht. Dabei ist die Tatsache, dass sie Holz als Basisrohstoff enthält, für ihren Charakter als Imitationsmaterial unbedeutend.

Die Erfinder und Anwender dieser Tapete wissen, dass die Materialeigenschaften von Holz überwiegend positiv gewertet werden; sie versprechen Wärme, Natürlichkeit, Nuancenreichtum, Elastizität, Haltbarkeit, gute Bearbeitungseigenschaften, hinzu kommt, dass das „Bild“ vom Holz durch seinen volkswirtschaftlichen Mangel positiv überhöht ist. Die Anwendung von Holz verspricht
Gediegenheit, Gemütlichkeit, Repräsentanz, zuweilen Improvisation. Solche Qualitäten sind mit der Erscheinung des Holzes durch einen stabilen Erfahrungscode verbunden, das heißt, dass beim Anblick von Holz die oben genannten Eigenschaften assoziiert werden, auch wenn sie in diesem Moment nicht sinnlich erfahrbar sind. Die konkrete Ausprägung dieser Assoziation hängt natürlich von dem
gegenstöndlich-räumlichen, funktionalen und sozial-kulturellen Kontext ab, also von der Situation, in der die Wahrnehmung erfolgt. Bis hierher ist der Vorgang noch nicht zeichenhaft. In dem Moment aber, in dem nicht mehr das Holz, sondern nur noch seine Oberfläche in Form eines Scheins auf der Tapete anwesend ist, die Assoziation aber bleibt, wird aus der Präsentation des Holzes seine Repräsentation. Holz wird vertreten. Ein Gegenstand aber, der in geistigen Prozessen einen anderen vertritt, ist ein Zeichen. Aus dieser Manipulation ergeben sich gewaltige gestalterische Möglichkeiten. Im imitierenden Zeichen stecken nicht nur Falschheit und Lüge, sondern es ermöglicht – wertneutral betrachtet – auch den wirklich freien Gebrauch eines kommunikativen Codes. Das ist die übliche Kommunikation durch Zeichen, bei der der Träger der Information niemals dasselbe ist wie das, worüber informiert wird. Sie bereichert unsere Gestaltungsmöglichkeiten dadurch, dass das, was bestimmte beabsichtigte Wirkungen hervorruft, nicht unbedingt real, an diesem Ort anwesend zu sein braucht, weil es assoziativ an ein anderes gebunden ist, das leichter beschaffbar, handhabbar oder wahrnehmbar ist. Imitation rechnet mit einem „naturgegebenen“ Code, der durch praktischen Umgang mit dem Material allgemeines Erfahrungsgut geworden ist. Sie befähigt den Gestalter, Materialempfindungen zu erzeugen, ohne das Material zu benötigen. Nur ist die Freude an dieser Freiheit nicht ungetrübt. Zwar mischt sich mit dem Bedürfnis nach wahrhaftigen Produktinformationen ein solches nach illusionären Eindrücken, doch ist mit jeder Desillusionierung bei massenhaftem Gebrauch der Imitation ein grosser Wirkungsverlust der Gestaltung verbunden. Jeder illusionäre Gebrauch eines Codes ist gleichzeitig ein Beitrag zu seiner Zerstörung. Erst wird die Holztapete als Draperie erkannt, dann andere.Varianten der Holzimitation; schließlich besteht richtigem Holz, gegenüber ein Mißtrauen, weil Echtes und Unechtes nicht mehr klar zu trennen sind. Irgendwann ist der Code völlig verschlissen. Das ist der stete Gang der Kommunikation: Aufbau eines Codes, sein kommunikativer Gebrauch und letztlich der Zerfall des Codes. Das Verwenden von Imitationen beschleunigt diesen Prozess. Viele der heute in Gebrauch befindlichen Imitationen spekulieren auf einen Code, der längst tot ist. Die Plasteblumen im Speisewagen assoziieren längst nicht mehr „Natur“. Vermutlich haben sie jeden Assoziationswert verloren, wir blenden sie einfach aus unserem Gesichtsfeld aus.

Imitation der Imitation der Imitation.
Die sogenannte Riemchentapete, auf der mittels fotomechanischem Druckverfahren ein Travertinriemchenmauerwerk abgebildet ist, können wir nach dem bisher Gesagten eindeutig als Surrogat bezeichnen. Aber das Mauerwerk aus Travertinriemchen ist bereits ein Blendwerk, das nur wenige Zentimeter dick vor eine Wand aus Ziegel, Beton oder ähnliches gesetzt worden ist. Die Imitation der ersten Stufe, die Riemchenmauer, ist ersetzt worden durch eine zweite Stufe, durch die Riemchentapete: durch imitierte Imitation. Ein Teufelswerk für unsere armen Sinne, die hier und bei anderem immerzu der Anstrengungen unterliegen, echt und unecht zu unterscheiden. Glücklicherweise verschleissen sich die Imitationscodes rasch, so dass die Imitationsketten ständig unterbrochen werden. Imitationen sind die klaren Fälle, daneben gibt es in weitaus grösserer Anzahl unklare Fälle, in denen sich die täuschende Nachahmung nur noch in schwachen Aspekten fortsetzt.

Verdecktes, Wahrnehmbares und Imitieren
Der Imitationsakt besteht meist aus zwei entgegengesetzten Handlungen, die beide auf Täuschung orientiert sind: dem Verbergen einerseits und dem Nachahmen andererseits. Dementsprechend enthält das Schema der Imitation (s. Tabelle S. 11) drei Komponenten: die wahrnehmbare Oberfläche (B), einen verdeckten Stoff (A) und einen imitierten Stoff (C).

Der Oberflöche B kommt dabei die aktive Rolle zu, da sie sich selbst präsentiert, ein zweites verbringt und ein drittes nachahmt. Sie übt gegenüber A eine Verdeckungs- und Verschleierungsfunktion, gegenüber C aber eine Nachahmungs- und Vortöuschungsfunktion aus. Beide Verhaltensweisen vollziehen sich als Zeichenprozesse, bei denen etwas nicht Wahrnehmbares ideell vertreten wird, die Signifikation gegenüber A erfolgt allerdings in der Negation, also durch Unkenntlichmachen statt durch Repräsentieren, so dass man sie – da sie den gleichen Gesetzen folgt wie die normale Bezeichnung – als „negative Signifikation“ bezeichnen könnte, wobei das Attribut „negativ“ wertneutral gebraucht ist. Verschleiern kann ebenso wichtig sein wie Vorzeigen; was dominiert, hängt vorn konkreten Fall ab. Die schon zitierte Plasteblume vertuscht nichts; sie will lediglich etwas darstellen, was sie nicht ist – ein Stück Natur (Fall 1). Oder Putz: Im
allgemeinen repräsentiert er nichts (für Stuck trifft diese Aussage nicht zu), aber er verbirgt den Putzträger, den Beton, das Mauerwerk und anderes (Fall 4).

Imitation versucht, ein wertvolleres Material zu repräsentieren als dadurch verdeckt wird. Der eigentliche Antrieb für die Verwendung imitierender Stoffe ist also eine Wertsteigerung von A nach C. Aber die Werthierarchie der Stoffe unterliegt natürlich – wie alle Werte – dem historischen Wandel. Zur Zeit des Barocks war die Vergoldung von Holzteilen ein kalkulierbares Mittel zur Steigerung des ästhetischen Wertes von Möbeln (Fall 2). Heute würde ein vergoldeter Holzstuhl allenfalls nostalgische Sehnsüchte befriedigen. Gold wird nicht mehr als souveränes Prosperitätszeichen allgemein anerkannt, und „Vergoldung“ gilt, im Gegensatz zu anderen Materialüberzügen, nicht mehr als Oberflächenveredlung. Schließlich stieg Holz in der Wertskala der Materialien so weit, dass man es offen zeigt – und inzwischen sogar imitiert, es ist von einem A-Stoff zu einem C-Stoff geworden.

In manchen Fällen ist das imitierende mit dem verdeckten Material eine so enge
Bindung eingegangen, dass es auch sprachlich als Einheit gefasst wird wie beim Chromstahl, der – im Gegensatz zu verchromtem Stahl (Fall 6) – eine hochveredelte homogene Einheit bildet und auf keinen anderen Stoff reflektieren muss, um seine metallische Natur zu versinnbildlichen.
Letztlich gehört jeder Farbüberzug zum Thema Imitation, wenn das Verbergen im Vordergrund steht. Nach Semper ist die Farbe „… die subtilste körperloseste Bekleidung … Sie ist das vollkommenste Mittel die Realität zu beseitigen, denn sie ist selbst, indem sie den Stoff bekleidet, unstofflich …“ (7)

Wirkung und Bewertung einer imitierenden Gestaltung sind von der Ähnlichkeit bzw. Verschiedenheit der drei Komponenten abhängig. Die Holzimitation auf einer Spanplatte (Fall 3) vertritt mehr Homogenität als dieselbe auf einer Betonwand (Fall 4). Damit ist das Maß des inneren Widerspruchs, mithin der Grad der Imitation, angesprochen. Stahl und Chrom bilden durch ihren metallischen Charakter einen Klassenzusammenhang. Gips, der oft genug als Marmorersatz herhalten musste, ist mit dem imitierten, edleren Salz immerhin chemisch verwandt. Hartbrandklinker, die vor eine Ziegelwand geblendet wurden, sind keine Imitation, sie wiederholen nur das Dahinterliegende in einer physikalisch dauerhafteren Ausführung.

Groß hingegen ist der Unterschied, der zwischen dieser fast homogenen Konstruktion und den auf die Loggiarückwand gemalten Ziegeln eines Neubaublocks besteht (Fall 5). Doch nicht schlechthin der Unterschied zwischen den Materialien der Klassen A und C ruft unsere Abneigung gegen diese Art der Vortäuschung hervor, sondern ihre technologische Rückwärtsgewandtheit. Diese Imitation hat Lothar Kühne treffend als „Ausdruck einer antiindustriellen gemütsmäßigen Reaktion“ beschrieben, worin sich „der eigentliche weltanschauliche und darin zugleich ästhetische Kern eines solchen Verhaltens“ befindet.8 Die Imitation der technischen Verarbeitungsform eines Materials bildet einen Grenzfall der Materialimitation. Die C-Komponente der Imitation wird dabei von der Technologie besetzt.
Erinnern wir uns an die sechziger Jahre, in,denen es Mode war, alle Verzierungen für altmodisch zu halten. Damals wurden Füllungstüren mit Sperrholz verkleidet, um sie glatt zu machen, heute werden auf diese Sperrholzplatten Leisten genagelt, um Füllungstüren vorzutäuschen. Erstaunlicherweise löste die Kaschierung des Handwerklichen damals weniger Skrupel aus als die sich jetzt vollziehende Tilgung des Glatten, des industriemäßig Hergestellten, obwohl jetzt wie damals das gleiche Maß an Täuschung festzustellen ist. Den Fortschritt zu imitieren ist weniger schlimm als die Vergangenheit nachzuahmen. Diese Haltung entspricht unserer gesellschaftlichen Psyche, die trotz mancher stilistischer Schwankungen auf den Fortschritt orientiert ist. In diesem Zusammenhang läßt sich das Imitationsthema noch weiter zuspitzen: Kann man auch die Zukunft imitieren? Sind utopische Spielzeugautos, waren Malewitschs suprematistische Entwürfe die ästhetischen Vorwegnahmen eines künftigen Zustandes – oder trügerische Verweise, Nachahmungen eines prognostischen Klischees, das die eigene technische und ästhetische Unsicherheit verschleiert?

Materiaigerechtheit und konstruktive Wahrheit
Semper bemerkte 1860, dass ein „strenges Festhalten an den Eigentümlichkeiten der Rohstoffe in Form und Farbe … immer schwieriger und schwankender wird, je künstlichere Mittel die fortschreitende Industrie erfunden hat.“9 Das ist in einer Zeit gesagt, als unsere modernen Baustoffe und Konstruktionen unbekannt waren, als Plaste, Glas- und Spannbeton, Seil-, Netz- und Schalenkonstruktionen, Montage- und Baukastenprinzip noch keine Rolle spielten. Was hat sich eigentlich seit Semper geändert? Die neuen Baustoffe haben ihre Spezifik wie die alten, aber es sind derer mehr geworden. Die höhere Verarbeitungsstufe der Rohstoffe bewirkt in den präsenten technologischen Systemen eine Materialgerechtheit, die vor allem als Technologiegerechtheit jenseits des Handwerks erscheint. Die zu koordinierende Menge technologischer Systeme und Materialien in einer komplexen Gestaltungsaufgabe macht es schwieriger, sie zu einer gestalthaften Einheit zusammenzuführen; zu einer Gestalt, die auch im Verständnis der Nutzer einen icleellen Gehalt besitzt. Die modernen Materialien unterscheiden sich hinsichtlich des Maßes an Selbstausdruck, den sie dem Ganzen beifügen können. Chromstahl bleibt Chromstahl. Plaste hingegen ist besonders amorph und unterwirft sich willig jeder geforderten Gestalt. Nur unter extremen konstruktiven Bedingungen wird sie genötigt, ihren Opportunismus aufzugeben und die ihr innewohnende Formenkraft freizusetzen. Beton wird zu Gartenlauben, im Stahlverbund zu weitgespannten Brücken und als Stahlbetonplatte im Wohnungsbau verarbeitet. Die Forderung noch materialgerechtem Einsatz der Baustoffe ist in unserer Bauwirklichkeit noch lange nicht durchgesetzt. Nur aus einer falschen Vorstellung von der „Modernität“ des Betons und aus Furcht vor der Ideologie des technologischen Rückschritts werden Gartenlauben aus Beton und nicht aus Lehmziegeln, dem Recycling-Material des Ländlichen, gebaut. Die Forderung nach Materialgerechtheit darf nicht verwechselt werden mit der nach Materialausdruck. Während erstere als Forderung nach technisch adäquatem Materialeinsatz vor allem ökonomisch motiviert ist (Materialeinsparung), leitet sich die letztere aus einer unmittelbaren Beziehung zum
Nutzer ab. Folgen wir noch einmal den Darlegungen Sempers: „Man hat in alten und neuen Zeiten sehr oft die architektonische Formenwelt vornehmlich als von dem Stoffe bedungen und aus ihm hervorgehend dargestellt, in dem man die Konstruktion als das Wesen der Baukunst erkannte und letztere somit in eiserne Fesseln schmiedete, während man glaubte, sie von falschem Beiwerk zu befreien. Soll aber nicht die Baukunst, gleich der Natur, ihrer großen Lehrerin, zuvor ihren Stoff nach den durch sie bedungenen Gesetzen wählen und verwenden, aber Form und Ausdruck ihrer Gebilde nicht von ihm (dem Stoff, 0. W.), sondern von den Ideen abhängig machen, welche in ihnen (den Gebilden, 0. W.) wohnen?“ (10)

Die Materialgerechtheit bildet eine konstruktive Grundlage der Gestaltung, von ihr ausgehend kann der Ausdruck in zwei Richtungen manipuliert werden: einerseits in Richtung der sinnlichen Tilgung der konstruktiven Form – bis zur Vortäuschung eines anderen Materials bzw. einer anderen Konstruktion, andererseits in Richtung der sinnlichen Überhöhung der Konstruktion – bis hin zu einem expressiven Technizismus. Die zeitgenössische Architektur arbeitet in beiden Richtungen, neue Historisten, Rationalisten und „Poparchitekten“ stehen auf der einen Seite, auf der anderen stehen die extravagant-ehrlichen Brutalisten, die Mies-van-der-Rohe-Anhänger und die exzessiven Neokonstruktivisten und Technizisten.

Jedes „Zusätzliche“ an Ausdruck, das über die „konstruktive“ Ehrlichkeit hinausgeht, wird zunächst durch Wahrnehmungsbedingungen geregelt: Konstruktionen werden mehr oder weniger sichtbar angeordnet, ihre Auffälligkeit wird gesteuert. Wo dieses einfache Vorzeigen oder Verstecken nicht mehr ausreicht, treten komplizierte Signifikationsprozesse in Kraft. Diese sind, ob sie zur Imitation oder zum Technizismus führen, prinzipiell gleich. Es sind Erkennungsprozesse, bei denen Formen verwendet werden, die über ihre Bedeutung auf etwas anderes verweisen, also Zeichen sind.

Imitationen funktionieren sehr oft durch leise Andeutungen, schwache Verweise, durch Metaphern und Symbole. Fritz Schumacher sagt dazu: „Auf der anderen Seite steht eine Architekturauffassung, die das konstruktive Gerüst umdeutet, und was etwa an funktioneller Charakteristik hervorgehoben werden soll, nicht unmittelbar, sondern symbolisch zum Ausdruck bringt. Die das Gerüst umspannenden Massen beleben sich an entsprechender Stelle zur Form und diese Form ist gebildet als Symbol von Stützen, Tragen , Spannen und Fügen, oder anders ausgedrückt, als Symbol statischer oder dynamischer Kräfte.“ (11)

Dabei kann die konstruktive Form selbst zum Zeichen werden, indem sie ihr Funktionieren symbolisch repräsentiert, oder diese Repräsentation kann von einem vorgeblendeten Zeichenträger übernommen werden als verhüllender Stoff. Die Verhüllung hebt die Forderung nach materialgerechtem Konstruieren des Verhüllten nicht auf. Semper dazu: „Das Maskieren aber hilft nichts, wo hinter der Maske die Sache unrichtig ist oder die Maske nichts taugt: damit der Stoff, der unentbehrliche, in dem gemeinten Sinne vollständig in dem Kunstgebilde vernichtet sei, ist doch vor allem dessen vollständige Bemeisterung vorher nothwendig.“12 Und Schumacher unterscheidet sorgfältig zwischen der Forderung nach Materialgerechtheit der Konstruktion und der nach ihrer Sichtbarkeit: „Es ist ein grosser Unterschied zwischen unwahrem Konstruieren und Umhüllen von wahrem Konstruieren.“
Er fordert in diesem Zusammenhang, dass „die Verhüllung in einer Weise vor sich geht, die nicht im Widerspruch mit der Konstruktion steht, sondern entweder den Charakter als verhüllende Fläche deutlich hervorkehrt oder die verhüllte Konstruktion andeutet.“ (13)

Was den Widerspruch anbelangt, so ist die heutige Architektur weniger empfindlich; sie fördert ihn sogar zum Zwecke des ästhetischen Genusses. Beispiele für das Bemühen um den Ausdruck der wahren Konstruktion und zugleich um seine Umdeutung sind die berühmten Eckausbildungen von Mies van der Rohe. Beim Seagran-Building in New York beispielsweise, das 1958 gebaut wurde, wird das konstruktive System durch ein Stahlskelett gebildet. Aus feuerschutztechnischen Gründen mussten die Stützen mit einem Betonmantel umhüllt werden, er wurde anschließend verputzt, ein doppeltes Verstecken, aber keine Imitation, denn der Architekt wollte den Ausdruck seines Bausystems erhalten. Er verkleidet deshalb die Stützen im Abstand von wenigen Zentimetern, nunmehr ein drittes Mal, mit dünnen Blechprofilen, die durch ein Hilfsgerüst getragen werden müssen, aber in ihrer ideellen Wirkung die gewaltige Statik des Hochhauses symbolisch zum Ausdruck bringen. Nicht die Stütze selbst erscheint, sondern ihr Sinnbild, dieses ist keine Nachbildung der Stütze, sondern eine freie Interpretation des Themas. Das Prinzip des Stahlskeletts kommt in einer Form zum Ausdruck, die ihren eigenen Wert besitzt und keineswegs vollständig hinter ihrer Bezeichnungsfunktion zurücktritt. Es ist vor allem die Idee der „negativen Ecke“, die durch die Umkehrung des alten Themas einen verfremdeten Ausdruck von Instabilität und Kraft gewinnt und das Wesentliche der Konstruktion nur noch assoziativ an sich bindet. Die Konstruktion ist wesentlich eine situationsabhängige Variable, sie könnte scheinbar überall dort ihren gegenständlichen Ausdruck erhalten, wo sie andere Codes nicht stört.

Doch nicht nur das Objekt allein entscheidet, erst im sozial-kulturellen Kontext lassen sich gültige Gestaltungskriterien entwickeln.

Zurück zur ethischen Fragestellung
Bezüglich der Darstellung der Konstruktion führt Schumacher aus, dass „…auch die reale Konstruktion des Bauwerks erst ihre künstlerische Wirkung (gewinnt), wenn sich ihre Bedeutung sinnfällig ausprägt. Nicht die Tatsache der konstruktiven Korrektheit, sondern nur die Tatsache der konstruktiven Suggestionskraft kommt künstlerisch in Betracht.“ (14)

Ist also, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, alles erlaubt? Bejaht man diese Frage hinsichtlich der eingesetzten gegenständlichen Mittel, dann ist Imitation ein ganz normales Verfahren der Gestaltung. Aber Imitation beruht auf einem Täuschungsmanöver, sie verschärft somit das Verhältnis von Mittel und Ziel der Gestaltung. Der jesuitische Satz von den Zwecken, die die Mittel heiligen, täuscht bewusst über die ethische Verantwortung hinweg. Der Gestalter trägt nicht nur bei der Bestimmung der Ziele, sondern auch bei der Auswahl der Mittel sein Maß an Verantwortung. Zwei Auffassungen stehen sich alternativ gegenüber, die eine Auffassung will nicht anerkennen, dass die Mittel ihren eigenen Wertraum besitzen und auf die Ziele zurückwirken, die andere setzt auf die Qualität der Mittel, ohne ihren funktionellen Bezug zu beurteilen, wer sie teilt, muss Imitation rigoros ablehnen. In semiotischer Betrachtungsweise lässt sich der Widerspruch der Standpunkte zumindest in seiner Vermittlung erkennen, sie besteht darin, dass jedes Gestaltungsmittel eine Doppelfunktion besitzt: Es widerspiegelt etwas – hier gilt das Kriterium der Wahrheit – und es kommuniziert etwas – in dieser Funktion muss es effizient wirken. Beide Funktionen sind im Falle der Imitation auf der Stufe der Imitation selbst unvereinbar, aber es gilt, dass sowohl die Forderung noch Wahrheit der künstlerischen Aussage als auch nach kommunikativer Effizienz auf der Ebene des Gesamtgebildes erfüllbar sind. Das Zusammenführen beider Qualitäten ist nur im hierarchischen System der Zweck-Mittel-Implikationen vorstellbar.

Jedes Gestaltungsmittel kann – entsprechend konzipiert – zu einem Gestaltungsziel werden. Die Aneignung eines ästhetischen Gegenstandes folgt den Sprüngen, Abkürzungen, Andeutungen, die das Verhältnis der verschiedenen Ebenen der vielfach gegliederten Hierarchie der Gestaltungsmittel charakterisieren. Was auf der einen Ebene illusionär ist, kann auf einer anderen Ebene zu einer tiefen Wahrheit führen. Das ist natürlich nur eine Möglichkeit, denn nicht jede Lüge verwandelt sich auf einer höheren Rezeptionsstufe in Wahrheit, wie es bei Michelangelos Kapitol so offensichtlich der Fall ist. Es muss also zum Beispiel darin differenziert werden, ob wir es mit sinnlichen oder mit höheren Formen der Täuschung zu tun haben. Es ist ein grundlegender Unterschied, ob durch eine optische Täuschung die Raumwahrnehmung verbessert werden soll oder ob eine bestimmte Gestaltungskonzeption soziale oder politische Illusionen erzeugen soll. Imitation liegt zwischen dieser harmlosen und dieser gefährlichen Täuschung. Seiner ethischen Verantwortung kann der mit illusionären Mitteln arbeitende Gestalter nur dann gerecht werden, wenn er den gesamten Rezeptionsprozess in seiner Komplexität berücksichtigt, wenn er durch den Wechsel von emotionalen und rationalen Elementen, von Illusion und Verfremdung, von aufbauenden und rückkoppelnden Momenten eine Selbstkontrolle des Rezipienten über den Prozess der Aneignung ermöglicht, ohne deshalb die Aussage der imitierenden Gestaltung rational umdeuten zu müssen. Imitation darf höchstens auf den zweiten Blick als solche erkannt werden, sonst ist sie keine.

Zusammenfassung:
Bedingungen für akzeptable Imitation Imitation ist eine auf Täuschung beruhende und diese verschleiernde Nachahmung; sie verfolgt das Ziel, die einem anderen Material oder einer anderen Materialverarbeitung in einem bestimmten Kulturkreis zugesprochenen positiven Eigenschaften zeichenhaft von einem wirtschaftlicheren Stoff vertreten zu lassen. Die Widersprüche zwischen verdecktem, wahrnehmbarem und vorgetäuschtem Material können je nach deren Charakter und dem der Ausführung zu unterschiedlichsten sozialen und ästhetischen Ergebnissen führen, zu Kitsch oder zu sublimierter Schönheit, zu profitablen Scheinlösungen oder zur Vervielfältigung ansonsten rarer emotionaler Stimuli. Imitation bewegt sich zwischen Täuschung und Nachahmung; Täuschung wie Nachahmung beinhalten für sich betrachtet mehr als Imitation; nur dort, wo sie sich beide restgleich treffen, im Kongruenzbereich ihrer Zuständigkeit, können wir von Imitation sprechen.

Theaterkulissen imitieren deshalb nichts, sie bilden ab und ahmen nach; sie beanspruchen keine Glaubwürdigkeit, der Kontext sorgt dafür, dass Theater und nur partiell Wirklichkeit suggeriert wird. Imitationen hingegen sind Zeichen, die ihre Zeichenhaftigkeit zu verleugnen suchen; sie sind Abbilder, die das Original sinnlich wiederholen und zugleich vorgeben, selbst das Original zu sein. Die Glaubwürdigkeit dieser identifizierenden Abbildung ist nur dann gewährleistet, wenn das Abgebildete der gleichen Gegenstandsklasse angehört wie das Abbildende, ein Material also ein anderes und eine Technologie eine andere darstellt. Das Bild eines Malers aber, auf dem mittels Farbe eine Landschaft dargestellt ist, setzt verschiedene Gegenstandsklassen miteinander in eine Abbildbeziehung. Das Bild bleibt Bild, auch, wenn es sein Sujet noch so trefflich konterfeit, wird aber Imitation, wenn es – als Fenster gemalt – wirklich das sein will, was es abbildet.

Imitation ist eine spezifische Art der Kommunikation, in der eine gegenständliche Form das Medium bildet. Wenn sich mit der Form die ideelle Seite gegenüber dem Gebrauch und der Technik verselbständigt, so ist das ein allgemeines Gestaltungsproblem, aber nicht ein spezifisches der Imitation. Formalismus muss überall bekämpft werden – gleich, ob er im Gewand der Imitation auftritt oder in einem anderen. Zur Diskussion steht der ethische und funktionale Wert der Imitation überhaupt. Unter weichen Bedingungen können wir Imitationen akzeptieren? Die Fragestellung setzt voraus, daß das Repertoire der Imitation unter bestimmten Bedingungen sinnvoll und vernünftig eingesetzt werden kann, ansonsten ist die Frage kurz als irrelevant abzulehnen. Voraussetzung für die Legitimation der Imitation ist die positive Gesamtfunktion des Produktes im Sinne einer sozialistischen qesellschaftlichen Zielstellung. Die Gegenstände sollen die allgemeine Emanzipation des Menschen fördern, relevante Bedürfnisse befriedigen und entwickeln helfen, Kenntnisse und Orientierungen, sinnliche und emotionale Erlebnisse vermitteln usw. Wir können der Imitation dann eine Chance einräumen, wenn sie sich in den Kreis der Gestaltungsmittel einordnen lässt, die sich dem sozialen, technischen und kulturellen Fortschritt verpflichten lassen.

Hierzu thesenhaft einige Überlegungen.

  1. Imitation gewinnt vor allem dort positive Momente, wo ihr instrumenteller Charakter deutlich wird, wo ihre dienende Rolle in einem größeren Umweltzusammenhang zum Ausdruck kommt.
  2. Imitation hilft, massenhaft auftretende ästhetische Ansprüche auch dort zu erfüllen, wo durch raren Stoff oder durch kostspielige Ausführung das „Echte“ unerreichbar ist. Die Demokratisierung der Kunst bzw. die Sozialisierung des gesellschaftlichen Reichtums und die technologische Entwicklung schließen auch Momente der Imitation ein.15 Sie dürfen aber nicht zu dem in der Kulturgeschichte immer wieder zu beobachtenden Versuch führen, die Partizipation am Reichtum der Gesellschaft nur scheinbar – eben als ästhetisches Surrogat zu vollführen.
  3. Der Umgang mit „unechten« Stoffen muß sorgfältig und kulturell verantwortungsbewusst erfolgen. In bezug auf die konzeptionelle und produktionstechnische Qualität sind die gleichen Maßstäbe anzulegen wie beim „echten“ Material. Der ästhetische Verfall ist oftmals keine Frage der Identität des Stoffes, sondern eine der Einhaltung dieser Qualitötskriterien. Auch Rezeptionsbedingungen müssen eingehalten werden. Die – nun schon zu bedauernden – Plasteblumen auf Nahdistanz zu setzen ist ein zweifelhaftes Privileg der Gaststöttenkultur, während die Kunstblumen auf dem Kongresspodium infolge des Abstandes zum Betrachter ihre Künstlichkeit verbergen können. Die Perfektion der Täuschung ist auch ein Qualitätspass der Imitation.
  4. In der Werthierarchie der Materialien gibt es gegenwärtig keinen allgemeinen Konsens hinsichtlich der Imitation. Imitation gewinnt an Wert, wenn das imitierte Material oder die imitierte Materialverarbeitung von den kulturell aktiven Mitgliedern der Gesellschaft weit oben in der Werthierarchie der Stoffe angesiedelt werden. Diese Werthierarchie ist funktionell bezogen, das heißt, von der Funktion des Gegenstandes abhängig, in ihr spielen Geschmack und Moden als besondere ideologische gesellschaftliche Verhältnisse eine bedeutende Rolle. Die Wertsteigerung, die Imitation verwirklichen sollte, ist heute nicht nur im tradierten Umkreis von Kostbarem, Besitz und Reichtum angesiedelt, sondern zum Beispiel auch im Natürlichen, weil es knapp geworden ist.
  5. Von den Inhalten der gewünschten Assoziationen ausgehend, müssen neue Formen ihrer Vermittlung gesucht werden. So kommt es zum Beispiel nicht darauf an, Holz nachzuahmen, sondern es kann die Aufgabe bestehen, Naturinhalte mit neuen industriellen Verfahren umzusetzen. Der imitierte Stoff wird dann nur noch angedeutet, nicht suggeriert.
  6. Das imitierende kann gegenüber dem imitierten Material hinsichtlich der Gebrauchsparameter gleichwertig oder sogar überlegen sein. In der Dimension der gesamtkulturellen Entwicklung muss sich also „Unechtes“ immerfort in „Echtes“ zurückverwandeln – entweder, indem es seine Interimsexistenz zugunsten des imitierten Stoffes wieder aufgibt oder indem es selbst „Echtes“ wird.
  7. Die Imitation als kulturell determiniertes Verhältnis verschiedener Materialien zueinander muss selbst eigenen ästhetischen Wert besitzen. Imitation hat nur Qualität, wenn ein Stoff mit einer der Täuschung genügenden Ähnlichkeit nachgemacht wird und zugleich aus den Widersprüchen des Versteckens und Vorführens, aus den Andeutungen und Metaphern, aus den Anspielungen und amüsanten Codierungen eine sinnliche Qualität hervorgeht, die ästhetischen Genuss verschafft. Das ist keine „naive“ Imitation aus Mangel, sondern eine „raffinierte“ Imitation aus Überfluss.
  8. Innerhalb des gesamten Aussagengefüges des Produktes darf die den Sinngehalt konstituierende Aussage nicht auf der Ebene der Imitation liegen, sonst wäre die Gesamtaussage unwahr.
  9. Imitation wird um so bedeutsamer, je mehr der imitierte Stoff nur Zwischenglied in einer Signifikationskette ist, in der er selbst ideell zurücktritt und durch den Verweis auf weitere Zusammenhänge abstraktere Bedeutungen transferiert – wie „Natur“, „Fortschritt“, „Tradition“ usw. Der Inhalt des jeweils letzten Gliedes dieser Kette überformt alle anderen und ist für die Bewertung der Imitation entscheidend.
  10. Kitsch ist die ästhetische Grenze der Imitation, die nicht überschritten werden darf. Vom Kitsch hat die Imitation einen Großteil ihres Negativwertes, aber keineswegs alles Kitschige gründet sich auf Imitationen.
  11. Der freie Umgang mit der Imitation erhöht die Gefahr des schnellen Verschleißens des Codes, ohne den Imitation nicht funktioniert. Ein geeignetes Mittel, um diesen Verschleiß zu verhindern, ist die Rationalisierung eines Teils der Wirkungsbeziehungen der Imitation. Durch ihr Bewußtwerden erhalten sie eine Stabilität, die auch die emotionalen Wirkungsbeziehungen aufrecht hält, zugleich die oben geforderte Selbstkontrolle der Rezipienten über seine Aneignung entwickelt und durch die Verstärkung des Widerspruchsmomentes von emotionalen und rationalen Elementen der Aneignung zu einer Sublimierung der ästhetischen Wertung verhelfen kann. Das Mittel zu dieser partiellen Rationalisierung der Imitation ist die Verfremdung. Beide, Verfremdung und Imitation, scheinen einander auszuschliessen, doch sie sind zur Symbiose fähig.
  12. Architektur- und Designkritik machen Voraussetzungen, Bedingungen und Wirkungsmechanismen der Imitation für Planer, Produzenten und Nutzer öffentlich; sie üben in Verantwortung für eine entfaltete sozialistische ästhetische Kultur einen korrigierenden Einfluss aus.

Imitation kann ein in jeder Hinsicht billiger Ersatz sein, sie kann aber auch ihren eigenen Wert besitzen. Imitation kann ein fremdes Material nur ersetzen, sie kann aber auch von keinem „echten“ Material ersetzbar sein.
Jenseits des Wildwuchses abgeschmackten Materialbetrugs und der Prüderie einer nur Phantasielosigkeit kaschierenden „Ehrlichkeit“ gibt es für Imitationen einen Platz im Repertoire unserer Gestaltung, der aber erst noch mit künstlerischer Qualität ausgefüllt werden muss. Der berechtigte Kampf gegen den faden Betrug darf uns nicht intolerant sein lassen. Es ist mit der Imitation, wie Goethe es auf seiner
Italienreise über den großen Renaissance-Architekten Palladio sagte: „Es ist wirklich etwas Göttliches in seinen Anlagen, völlig wie die Form des großen Dichters der aus Wahrheit und Lüge ein drittes bildet, dessen erborgtes Daseyn uns bezaubert.“16

Anmerkungen
1 Hirdina, H.: Über Imitation, in: form+zweck 12 (1980) 2, S. 30 f.
2 Schumacher, F.: Das bauliche Gestalten. Handbuch der Architektur, Bd. IV, Teil 1
(Architektonische Kompositionen), Leipzig 1926, S. 17 f.
3 Neues Deutschland vom 23. 1. 1981, S. 4
4 zitiert nach Peschken, G. : Karl Friedrich Schinkel. Lebenswerk, München/Berlin (West) 1979, S. 115
5 Meyer; H.: Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, Projekte, Dresden 1980. S. 351
6 Neutra, R.: Gestaltete Umwelt, Dresden 1968, S. 102
7 Semper, G.: Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik, Bd. 1, Frankfurt (Main) 1860. 5. 445
8 Kühne, L.: Gegenstand und Raum. Uber die Historizität des Ästhetischen. Dresden 1981, S. 36
9 Semper, G.: a. a. 0., S. 95 f.
10 Vgl. Semper, G.: Die vier Elemente der Baukunst’zitiert nach Wirth, H.: „Kunstform“ und „Kernform“ in Gottfried Sempers Architekturtheorie, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 28 (1982) 1, S. 49-58 l‘
11 Schurnacher, F.: a. a. 0., S. 21
12 Semper, G.: Der Stil . . ., S. 111 ,
13 Schumacher. F.: a. a. 0., S. 20
14 Schumacher, F.: a. a. 0., S. 21
15 Wesenberg, A.: Kunst für Alle. Materialimitation und Reproduktion im frühen 19. Jahrhundert, in: Farbe und Raum 35 (1981) 3, S. 6 f.
16 Goethe, J. W.: Italienische Reise, in: Goethe´s Italienische Reise. Aufsätze und Aussprüche über bildende Kunst. Hg. von Christian Schuchardt, Bd. 1. Stuttgart 1862, S. 98

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