Zwei Bücherwürmer (1982)

Olaf Weber
Zwei Bücherwürmer.
Eine Persiflage auf Lothar Kühnes Buch „Gegenstand und Raum“.
1982

Zwei Bücherwürmer, von schnöden Gedichtbänden mit vitaminlosen Ballaststoffen überfressen, machten sich in meinem Bücherregal an ein neues Buch heran, um es mit ihrem bohrenden Appetit zu durchlöchern. Von meinem Schreibtisch aus konnte ich beobachten, wie sie in wahrlich kühner Akrobatik den glänzenden Pappdeckel des Werkes – es ist ein Taschenbuch – erklommen und mit dummer Freßlust ihr schändliches Tun begannen. Ich erschrack, weil ich nicht wußte, ob das Gewährenlassen dieser Gängebohrer einer richtigen Interpretation der These entsprach, daß Raumschaffen eine emanzipatorische Aktion sei. Immerhin, dachte ich mir, die Insekten gehören dazu. Bruder und Schwester Bücherwurm- der eine nannte sich E.P.Gone,der andere A.Dept – schaffen sich freien Raum durch Fressen. Im gelobten Schlaraffenland hat auch der Mensch diese Kulturstufe erreicht, nur muß er dort durch süßli­chen Kuchen sich bohren. Aber Kuchen ist auch Gegenstand und bedrucktes Papier auch. Das dachten sich auch die mittlerweile durch die Gestalt und Struktur der Druckerschwärze zu philosophischem Denken angeregten Würmer und schufen sich gegenstandsverdünnte Orte, wo man richtig frei sein konnte. Daß man in großen weiten Räumen, in denen nur wenige Gegenstände den Blick verstellten und die universelle, auf den Kosmos hin gedachte Aktion des Gän­gebohrens nicht mehr durch ewig gestrige Würmer als Fressen de­nunziert werden kann, daß man also in solcher schönen Leere sei­ne Persönlichkeit erst richtig entwickeln kann – das begriffen nun auch die Bücherwürmer, die offensichtlich ein spezielles Vermögen gewonnen hatten, Zellulose in geistige Kost zu verwandeln, indem sie die Begrifflichkeit ihrer Nahrung durch ihre Darmzotten verinnerlichten. Oder war es die Struktur ihres Strickleiternervensystems, die es ihnen leicht machte, solche Erkenntnisse zu verdauen?

Wie dem auch sei, jedenfalls mußten sie schon gewaltige Hohlräume im Innern des Buches geschaffen haben, die zu kühnsten Hoffnungen Hoffnung gaben. „Wie herrlich weit, wie frei und schön“ hörte ich den einen Wurm piepsen, „fühlt man sich, wenn man dem kleinbürgerlichen Trieb widersteht, nur Gänge zu bohren, wobei die Gegenständlichkeit der Umwelt doch nur dem Drehmesser des eigenen Leibes weicht. Huch!“ er räkelte sich.

„Oh schön! Komm schon her“, rief er dem anderen Wurm zu und machte dabei auf dem Boden des ausgefressenen Raumes, den er aus Gründen der Verständigung dem anderen gegenüber „Turnhalle“ nannte, freie gymnastische Bewegungen. Eine ungekannte kinästhetische Wollust überkam ihn dabei, denn bisher – in den Gängen – konnte er mit seinem Körper immer nur solche Bewegungen nachvollziehen, die sein Kopf schon vorgezeichnet hatte (oder die Beißwerkzeuge, was aber dasselbe ist). Nun aber räkelten sich unsere Würmer nach Leibesmöglichkeiten, mal krümmten sie den Kopf nach oben oder un­ten, mal den Schwanz, mal den Rücken. Auch nach rechts und links bewegten sie ihre Segmente. War das eine Freiheit!

„Wie arm dran sind doch die Menschen, die infolge ihrer komplizierten Gesellschaft nicht in der Lage sind, eine Weisheit, die sie lesen, sogleich in praktischer Tat zu verwirklichen. Sie kleben immer noch an den Dingen und lieben deren Oberflächen.“ „Ja“, sagte der andere Wurm, der andere Stellen des Buches gefressen hatte, „anstatt die praktischen Gegenstände praktisch und technische Gegenstände technisch lösen zu lassen, schmücken sie al­les in ihrem dekadenten semantischen Trieb, wo doch die Menschheit für ihre Kommunikation so feine Mittel wie Kino und Fern­sehen erfunden hat.“ „Und Bücher“, fügte der erste wiederum hinzu. Und so erzürnten sie sich noch eine Weile darüber, daß es immer noch Leute gibt, die, anstatt Bücher zu schreiben, ihren Geist in gegenständlichen Formen anlegten.

Ich hatte für diesen Abend Gäste eingeladen und konnte – der Ver­gangenheit wegen – die weitere Unterhaltung der Würmer nur bruch­stückhaft verfolgen. Ich ging zum Schrank und suchte unter den Tischdecken eine aus, die dem Charakter meines kleinen Festes angemessen schien, dann gruppierte ich die Sessel in eine solche lockere Zufälligkeit, die ein ungezwungeneres Kennenlernen meiner Gästeschar ermöglichen sollte, löschte das Deckenlicht und schaltete die Stehlampe und einen Punktstrahler ein, der ein selbstentworfenes Wandregal gut zur Geltung bringen sollte. Mit diesem Entwurf hatte ich vor Jahren versucht, mein ganz persönliches Verhältnis zur Tradition als tektonisches Prinzip zu definieren, stehe allerdings heute nur noch halbherzig dazu.

Als ich mich gerade darüber ärgerte, daß die Farbe der Cognacschwenker zu flau und vulgär und die am Vortage gekauften Blumen meinen Vorstellungen vom Charakter des Abends nicht mehr entsprachen, hörte ich die Bücherwürmer, wie sie einige noch unverdaute Wör­ter über serielles Produzieren wieder hervorbrachten. Der Sinn der Industrialisierung der Produktion sei die Vermehrung von Freizeit der Produzenten, meinten sie. Aber diese Freizeit – das ging aus der Unterhaltung hervor – konnten sie sich nur durch gymnastische Übungen bei den Würmern oder durch philosophisches Denken bei den Menschen vorstellen. Das freizeitliche Verhalten zu Gegenständen war ihnen unvorstellbar, sonst wären ihnen noch ein paar Worte zu deren notwendiger Ausdrucks – und damit Vielfaltspotenz eingefallen. Das industrielle Produzieren – so hätte ich beinahe ins Bücherregal gerufen – soll nicht nur Freizeit vermehren, sondern durch die emotionale, geistige, kulturelle Potenz ihrer Vergegenständlichung auch Freizeit ausfüllen! Die Dinge sollen nicht nur einen Nebenbei-Ausdruck irgendwie erhal­ten, sondern wir wollen den Dingen auch Ausdruck geben. Wir wollen uns mit Dingen unterhalten. – So hätte ich beinahe gesprochen, aber die Würmer hören ja nicht, sie sind höchstens gehörig.

So verzichtete ich auf den Diskurs und begann, mich umzukleiden, alldieweil ich meine Gäste schon im Anmarsch wähnte. Zu allem Aberwitz begleiteten die Würmer meine Umkleidung mit Reflexionen über die Modesucht der Menschen . „Die Leute kleiden sich modisch, weil sie die Interessen der privatkapitalistischen Bekleidungsindustrie mit ihren eigenen verwechseln“, argumentierte der eine in den Kategorien der Politischen Ökonomie, sie unterliegen gesteuerten Kaufanreizen, obwohl ihre alte Kleidung physisch noch nicht verschlissen ist. Sie dienen damit ungewußt der Profitmaximierung, besonders in Zeiten der kapitalistischen Überproduktion“. Der ander affimierte diese Erklärung aus soziologischer Sicht: Die Mode sei Ausdruck exklusiver sozialer Beziehungen, nicht aber solidarischer und hätte im Sozialismus keine Basis. Die Zukunft sehe uns in langlebigen Gewändern und Uniform weil sich die Entwicklung unserer starken Persönlichkeiten nicht mit Äußerlichkeiten belasten würde.

Nun war es nicht nur die Nacktheit und Glatzköpfigkeit der Würmer und nicht nur ihr Wurmsein, die mich fortfahren ließen, den für mein Gemüt, für meinen Anzug, für den Zeitgeschmack, für die schönste Frau des Abends und für mehr geeignetsten Schlips auszusuchen. Ich ärgerte mich nur, daß ich nicht genügend Auswahl an diesen Ausdrucksmitteln besaß, nicht der Exklusivität, sondern der Kommunikation willen. Die Philister des Buches und ihre Würmer können sich den Schlips nur in abstrakta zum Symbol konformistischer Haltung umdeuten oder sie fühlen sich auf denselben
getreten, wenn die Denunziation des Schmuckbedürfnisses nicht in die ewige Zukunft verlängert, sondern im neuen Sinn des gegenständlichenAusdrucks aufgehoben wird. Ich mußte den Knoten dreimal binden.

Nun war es still geworden im Bücherregal. E. P. Gone und A. Dept waren wohl nach der Verdauung eingeschlafen oder es fehlte ihnen an Stoff, an Gesprächsstoff, den sie ja nur ihrer Umwelt ent­nehmen konnten. Infolge ihrer angeborenen Kurzsichtigkeit sahen sie in ihrer Turnhalle nur ein leeres Nichts. Vielleicht ist ihnen da aufgegangen, daß sie beim Raumschaffen mit dem Papier auch den Sinn, der darauf gedruckt war, vernichtet haben. Wir, die Menschen, wissen, Gott sei Dank, welches Informations- und Kommunikationspotential die gegenständliche Umwelt besitzt. Da klingelt es, hoffentlich ist alles gut ausgedrückt : Nicht Haben, sondern Persönlichkeit.
O.W.

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