Brief an Bernd Grönwald – Bauhauskolloquium – (1976)

Lieber Bernd!

Das Bauhauskolloquium ist über die Bühne. Ich war einer der Zuhörer und bin gemeinsam mit allen, die schon immer mit dem Bauhaus sympathisierten froh, daß es stattgefunden hat. Es hat eine Situation geschaffen, in der es leichter geworden ist, die Leistungen des Bauhauses sachlich zu beurteilen und es bietet sich eine Gelegenheit zur schöpferischen Theorie- und Geschichtsdiskussion, die wir nicht versäumen sollten. Deshalb sind meine Bemerkungen zur Qualität unserer Bauhausreflexion an alle politischen und wissenschaftlichen Kräfte der Hochschule gerichtet mit der ich – mit dem Abstand einiger Jahre – immer noch verbunden bin.

Du bist als Parteisekretär der HAB und einer der maßgeblichen Organisatoren des Kolloquiums ein kompetenter Adressat.

Ich habe weder vor, Dir sattsam bekannte Daten aufzutischen, noch eine neue Bauhaus-Story zu erfinden, sondern ich will einige Probleme nennen, die ich mir während des Kolloquiums notiert habe. Meine Aussagen sind kritisch, sie betreffen unsere Sicht des Bauhauses, mehr aber noch unsere bauliche Wirklichkeit in dieser Sicht.

Mir scheint, daß wir dabei sind, einige Aspekte aus dem Gesamtkomplex „Bauhaus“ über die Gebühr zu vereinzeln und deshalb Gefahr laufen, einzelne Seiten der Bauhausvergangenheit für das Ganze zu setzen. Das ist zunächst ein wissenschaftliches Problem: Wie ernst nehmen wir das Bauhaus als historisches Faktum, nehmen wir es ernst dann müssen wir den komplexen und universellen Charakter, die zwar widersprüchliche -natürlich besonders widersprüchliche, weil in bis dahin unbekannte Regionen reichende- Ganzheit des Bauhauses als ihr Spezifikum anerkennen. Das Bauhaus war nicht nur eine Einheit nach außen (gegenüber anderen gesellschaftlichen und gestalterischen Kräften), nicht nur gegenüber seinen verschiedenen Entwicklungsphasen (etwa Gropius, Meyer, Mies van der Rohe), es vertrat nicht nur die These vom Einheits(kunst)werk –es war vor allem eine Einheit bezüglich seiner geistigen Substanz, den Architekturkonzeptionen, Theorien, Lehrmeinungen und gestalterischen Ergebnissen, die deshalb allerdings nicht aus einem Guß waren, kein totes amorphes Dogma. Wir sollten diese spannungsvolle, hochkomplexe Ganzheitlichkeit stärker ins Blickfeld rücken, die für die bedeutende Rolle des Bauhauses wie für sein Verständnis von großer Wichtigkeit ist.

Es ist aber klar, daß man Bauhausforschung nicht zugleich an allen Enden betreiben kann. Mir scheint aber, daß die Entscheidungen über die Forschungsschwerpunkte, die zugleich publizistische Schwerpunkte sind, auf einem sehr bequemen Sessel getroffen worden sind. Dazu brauchen wir doch das Bauhaus nicht mehr: die Vorfertigung entwickeln, den Massenwohnungsbau verstärken, die Freundschaft zur Sowjetunion pflegen. Auf solche, für die DDR-Praxis schon selbstverständlich gewordene Aspekte der Bauhausvergangenheit orientieren wir aber unsere „Erbereflexion“, das heißt aber, auf problemlose. Es bleibt sich dabei gleich, ob wir uns auf diesem Weg durch das Bauhaus oder das Bauhaus durch unsere Wirklichkeit bestätigen wollen, wenn wir nur Positiv-Kongruentes festzustellen haben. Wir brauchen das Bauhaus, aber wir brauchen es nicht als verstümmelt hervor gekramte Autorität, die dazu dient, den eigenen eingeschlagenen Weg (von wem?) propagandistisch zu rechtfertigen; wir brauchen es in einem produktiven, uns vorwärts weisenden Sinne. Die jetzt initiierte Bauforschung darf nicht zur bloßen positiven Geschichtsforschung abfallen, die von Gropius behauchte Bausteine und andere Fakten sammelt, die für unsere Wirklichkeit unverfänglich sind. Sie sollte Forschung sein, die, indem sie kein Quäntchen aus der sensiblen Dynamik seiner Entwicklung verdrängt, das Phänomen Bauhaus in dialektischem Zusammenhang mit unserer Theorie und Praxis stellt und aus den unbequemen Widersprüchen Lehren für unsere nicht nur zu bestätigende, sondern doch immer noch mehr zu verändernde Wirklichkeit zieht.

Von einer Institution, die vor einem halben Jahrhundert tätig war, kann man heute weniger Faktisches als Methodisches übernehmen, also nicht Stile, Techniken, Hoffnungen, nicht das damals Neue, sondern die Art und Weise, mit der man damals auf Neues gestoßen ist. Das waren vor allem: Eine grenzenlos schöpferische Atmosphäre, eine hoch entwickelte architektonische Sensibilität, eine starke Assimilationsfähigkeit gegenüber allen vorwärts weisenden technischen und ästhetischen Erfindungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesellschaftlichen Entwicklungen und -nicht unbedingt letztlich– eine kritische und selbstkritische, aber auch tolerierende Haltung der Bauhäusler untereinander. Alles das ist in der Architekturausbildung nicht genügend entwickelt. Aber wir können weder das Bauhaus verstehen, noch unsere eigenen architektonischen Probleme lösen, wenn wir nicht ein aufgeschlossenes, kritisches, geistiges Klima entwickeln. Nur ein solches Klima macht aus der Bauhausforschung als einer Planstelle für sich qualifizierende Spezialisten eine öffentliche Angelegenheit.

Wir sollten nicht nur Forschung über das Bauhaus, sondern vor allem im Sinne des Bauhauses betreiben. Das heißt, wir sollten die Erfahrungen des Bauhauses für die Lösung unserer eigenen konstruktiven, nutzertechnologischen, gestalterischen…Probleme verwerten. Wir sollten sie so lösen, wie sie das Bauhaus von 1977, das nicht das Bauhaus von 1919 oder 1930 wäre, lösen würde. Es bedarf –zugegeben- starker Vorstellungskraft, sich das Bauhaus ohne abruptes Ende, in seiner Entwicklung bis in unsere Zeit zu erträumen. An dieser Entwicklung war aber klar die Tendenz zur Verwissenschaftlichung. Und wenn wir heute genauer ahnen, wo die Grenzen dieses Prozesses sind, so hatte Meyer uns doch den Mut voraus, die Wissenschaft in ihrer jeweils aktuellsten Form in jeden architektonischen Entscheidungsprozess einzuschieben bzw. durch Experten dort einzulagern.

Nehmen wir als Beispiel den Gestaltungssektor, in dem ich mich ein wenig auskenne. Es sei an unzählige Aussagen von Bauhausmeistern erinnert, die auf verschiedenem Wege, teils durch systematisches Ordnen, teils durch empirische oder experimentelle Befragungen, teils durch andere Methoden, gesetzmäßige Beziehungen zwischen der architektonischen Form und dem Menschen (zu seiner Verfügung stehen, nämlich Kommunikationsforschung, Semiotik, Psychologie, Informationstheorie, Kultursoziologie usw.) noch unentwickelt oder für die Architektur noch nicht aufbereitet waren. Es ist deshalb nicht spekulativ zu behaupten, daß das Bauhaus, würde es noch institutionell existieren, eine führende Position in der wissenschaftlichen Erforschung der ideellen Potenzen und Wirkungen von Architektur innehätte. Eine Institution, die vorgibt, das Bauhaus positiv verarbeitet zu haben, muss heute massive Forschungsarbeit auf diesem Gebiet leisten. An unserer Hochschule gab es den neuen Disziplinen gegenüber meist nur Vorurteile. So wäre das zarte Pflänzchen „Kommunikationstheorie“ das in der AG „Gestaltungs- und Entwurfslehre“ durch einen Auftrag der Bauakademie kaum angesetzt hatte, fast vertrocknet und zwar –ganz konkret gesagt- durch die Polemik von Dr. K.-J. Winkler, der neuerdings Artikel über das Bauhaus veröffentlicht. Hoffentlich ein produktiver Widerspruch.

Wir müssen in Zukunft dem Eindringen verschiedener Wissenschaften in den Gestaltungssektor, der behüteten Domäne des Gefühls, verantwortungsvoller gegenüber treten. Mit der Wissenschaft rationalisieren wir weder das Ästhetische hinaus, noch sterilisieren wir unsere Erfindungsgabe.
Aber beides ist möglich, wenn Gestaltung und Wissenschaft nicht mit dem nötigen Feingefühl einander angenähert werden. Wir müssen in Zukunft neue wissenschaftliche Disziplinen bereitwillig, gründlich und kritisch testen und verarbeiten, sonst können wir unsere Aufgabe nicht erfüllen, immer mehr notwendige, allerdings nie hinreichende Kriterien für Gestaltung zu gewinnen, d.h. nichts anderes als die Gestaltungslehre ständig auf die Höhe ihrer Zeit zu bringen.

Ich bin überzeugt, dass sich –besonders durch die Offensive der marxistischen Bauhausforschung- ein sachliches und anregendes Bild der bisher ruhmvollsten Periode der Weimarer Architekturschule herausbilden wird. Aber es bekäme unserer Bauhausdiskussion schlecht, würden wir allzu schnell zur Tagesordnung übergehen. Wir wissen doch noch gut, dass das Bauhaus lange Zeit verteufelt wurde und auch an unserer Hochschule sprach man noch vor ein paar Jahren möglichst wenig davon. Jetzt ist eine neue Situation. Wir dulden das Bauhaus nicht nur, sondern wir verwerten es. Das verleitet uns nicht zur Schadenfreude (den Schaden hatten wir ja selber) gegenüber den Leuten die aus vielerlei Gründen das Bauhaus abgelehnt und eine öffentliche Diskussion darüber verhindert haben. Aber wenn wir jetzt nicht unser Umdenken anschaulich machen, wenn wir nicht klar die Punkte begründen, in denen wir zum Bauhaus neue Positionen beziehen und solche, in denen wir unsere kritische Distanz bewahren, dann machen wir aus dem Bauhaus eine Religion, d.h. aber, wir reproduzieren nur unsere sterile Haltung aus den 50 er Jahren, wir wenden nur den Mantel um. Unser Bild vom Bauhaus wird nur dann lebendig und seine Ideen werden uns nur dann operativ verfügbar, wenn wir uns mit der Geschichte unserer eigenen Beziehungen zum Bauhaus auseinandersetzen. Wir können nur dann die großen Verdienste, die historischen Grenzen und auch die Mängel des Bauhauses aufzeigen, wenn wir sowohl bürgerliche Fehlinterpretationen wie auch Abarten solcher Haltungen bekämpfen, die das Bauhaus mit bürgerlicher Dekadenz und Formalismus gleichsetzen. Wir dürfen also das Bauhaus nicht durch die Hintertür einführen. Wir müssen notwendige Korrekturen in unserer Beziehung zum Bauhaus öffentlich vornehmen. Sie werden dadurch richtiger und verständlicher.

Ich sage das alles, weil ich aus einer sachlichen Popularität des Bauhauses fruchtbare Einflüsse auf unsere bauliche Wirklichkeit erwarte. Daher sollten wir aber Bauhausforschung nicht wie Margarineforschung betreiben, sondern engagiert die Gegenwart herausfordern Wir dürfen auch nicht den nachweislich schnell steigenden Bedarf der Praxis an Architekturtheorie und architektonischen Konzeptionen durch Hinweise auf Bauhausprogramme ersatzweise befriedigen. Mir scheint in der Tat die zu verspürende Hinwendung zum Bauhaus nur zum Teil dem Bauhaus zu gelten, zum anderen der Architekturtheorie überhaupt, die allerdings am Bauhaus eine noch nicht wieder gefundene Originalität und Geschlossenheit besaß. Wir müssen deshalb unsere Bemühungen verstärken, eine Architekturtheorie zu entwickeln, die weder allgemein philosophisch noch pragmatisch ist, sondern konkret. Damit schaffen wir den Übergang von der Architekturtheorie zur Architekturkritik. Dieser Brief zielt dahin.

Ich bitte Dich, diese den Umständen entsprechend (ich bin jetzt ein halbes Jahr Soldat) flüchtig niedergeschriebenen Gedanken zur öffentlichen Diskussion an der HAB zu stellen, vielleicht in „Konstruktiv“.

Herzliche Grüße
Olaf

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